Wir waren längst auf dem Weg zu einem besseren Verständnis staatlicher Stärke!

Zum drohenden Rückfall in ein fatales Staatsverständnis – anlässlich des jüngsten Desasters der Macht (Teil 2 und Schluss)

Wer Stärke, Größe und Macht um ihrer selbst willen anstrebt, läuft Gefahr, an all dem irre zu werden – wie vielleicht jetzt Herr Putin als isolierter Neo-Zar im Kreml, wo sich mangels freier Redemöglichkeit in seiner unmittelbaren Umgebung anscheinend nur noch servile Höflinge tummeln, so dass er einen unabhängigen Realitätsbezug gänzlich einzubüßen droht.

Das zwischenzeitliche Ergebnis: Frieden und Krieg, Brüder und Opfer, Nachbarn und Feinde, Geschichte und Gegenwart werden miteinander verwechselt, indem sich der Autokrat selbst in die Verdrehungen all dessen verstrickt, was die staatliche Propaganda auf sein Geheiß anfänglich gezielt zur Manipulation der Öffentlichkeit eingesetzt hat.

Kann man überhaupt derart strategisch und umfassend lügen, ohne Gefahr zu laufen, sich am Ende aussichtslos selbst zu belügen und jeglichen verlässlichen Realitätsbezug einzubüßen?

Es ist höchste Zeit, die Hypothese zu prüfen, dass von Anfang an jede Macht an sich selbst irre zu werden droht, die nur auf mehr Macht aus ist – in diesem Fall von St. Petersburger Gangs, wo Putin offenbar gelernt hat, wie das Leben im Allgemeinen funktioniert, über die russische Mafia und den inzwischen scheinbar allmächtigen FSB, der bis heute die Tradition der Tschekisten hochhält, bis hin zur Konkurrenz der Großmächte, in der man "mitspielen" möchte, um auch "jemand" zu sein. (So jedenfalls, als Anspruch auf "Weltgeltung" als "Weltmacht", wurde uns vulgärpsychologisch immer wieder erklärt, warum Putin Bashar Al-Assad in Syrien mit seinen Fassbomben unterstützt hat – offenbar in einem Probelauf seiner späteren Aggression gegen die Ukraine, die dem gleichen Muster folgt.)

Wer es von Anfang an nur auf die Steigerung seiner Macht anlegt oder erst später auf den entsprechenden Geschmack kommt, muss schließlich zur Gefahr für die Menschheit werden, die sich, wenn sie wie üblich zu spät aufwacht, in der Brutalität des autokratischen oder diktatorischen Machthabers regelmäßig nicht wiedererkennen will.

Auf ihn zeigt man dann mit den Fingern, um ihn zu ächten und wenigstens symbolisch zu brandmarken, wo immer möglich – auch wenn das den Betreffenden in keiner Weise beeindruckt. Dabei hält der Machthaber nicht nur all jenen einen Spiegel vor, die ihn haben hochkommen lassen, von ihm profitierten und offen oder insgeheim mit ihm sympathisierten.

In seinem Tun müssen sich auch all jene wiedererkennen, die im Grunde der gleichen Kryptotheorie der Macht anhängen, derzufolge es nicht anderes als Macht und mehr Macht ist, worum es im Leben geht.

Damit soll nicht gesagt sein, alle, die so denken, müssten letztlich Autokraten, Diktatoren oder Tyrannen werden wollen, hätten sie nur die Gelegenheit dazu. Wie gesagt: "den" Menschen, dessen Wesen man eine entsprechende Dynamik der Macht und ihres Machtens zuschreiben könnte, gibt es nicht.

Es genügt jedoch, sich vor Augen zu führen, wohin Macht um der Macht willen in zweifellos besonderen Fällen führt, um allen ihr eigenes Machtverständnis neu zu denken zu geben. Denken wir anderen, die Macht nicht als Selbstzweck begreifen können, Macht wirklich schon anders? Stellen wir uns nicht sogar die freiwillige Abgabe von Macht so vor, dass sie sich stets unserer eigenen Machtvollkommenheit verdankt?

Andernfalls würde sie uns ja genommen, geraubt usw., was sich wohl niemand gut als akzeptabel vorstellen kann. Die Macht derer, die sich nicht einmal in ihrem engsten Umfeld zum Autokraten, Diktator oder Tyrannen eignen, mag hinsichtlich ihrer Mittel und Reichweite beschränkt sein, aber ändert das viel daran, dass man sich diese Macht auch in ihrer relativen Beschränkung stets als unbedingt aufrechtzuerhaltende wünscht? Möchte der pater familias wirklich seine Entmächtigung erfahren oder lässt er sie sich allenfalls gegen seinen Willen abnötigen?

Gewährt man Mitsprache, wenn wirklich die Gefahr besteht, dass man schließlich nicht mehr "das Sagen hat"? Akzeptiert die Chefin am Ende nur zum Schein flache Hierarchien, um desto subtiler an ihrer Macht festhalten zu können? Längst sind auch das Zuhören, das aufmerksame Achten auf Andere und die Sensibilität für ihre Belange machttheoretisch in den Verdacht geraten, eigene Herrschaft über sie nur effizienter und unerkennbarer zu sichern.1

Zu fürchten ist, dass man sich in der gegenwärtigen Lage keine Zeit mehr lassen wird für dergleichen Skrupel. Denn allzu sehr scheint die Lage Rückbesinnung auf frühere Stärke einschließlich massiver Bewaffnung zu verlangen, der man in der Erinnerung an enorme Stückzahlen von Panzern und Kampfflugzeugen, über die man zur Zeit des Kalten Krieges verfügte, nun regelrecht nachzutrauern scheint.

So droht ein machtpolitischer Rückfall größten Ausmaßes, wenn man sich vom Gegner eine Logik der gegenseitigen Aufrüstung, Bedrohung und Abschreckung aufnötigen lässt, von der man längst weiß, dass sie sich notorisch spiralförmig entwickeln muss – ohne absehbares Ende, so dass schließlich niemand von ihr gewinnen kann. (Abgesehen natürlich von der zwischenzeitlich an einer solchen Entwicklung stark interessierten Industrie.)

Eine Lösung der aktuellen Situation verspricht das ohnehin nicht. Und in welchen künftigen Szenarien sich ein im Westen massiv wiederaufgerüstetes konventionelles Militär wirklich bewähren und lohnen könnte, bleibt weitgehend Spekulation – ganz abgesehen von einer nur der Industrie dienenden Misswirtschaft, die trotz über 50 Milliarden jährlicher Ausgaben für deutsches Militär nur mit Mühe wenige hundert, noch dazu höchst unzulänglich ausgestattete Soldaten bereitstellen kann.

Glaubt man im Ernst, in derart technologisch hochsensiblen Gesellschaften wie den unsrigen sei noch ein konventioneller Krieg zu führen? Weiß man nicht, dass solche Gesellschaften, deren durchgreifende Digitalisierung man seit langem propagiert, durch einige wenige gezielte Anschläge auf Knotenpunkte ihrer elektronischen Infrastruktur in kürzester Zeit weitestgehend schachmatt zu setzen sind und dass man über analoge Sicherheitssysteme kaum mehr verfügt?

Nicht einmal Sirenen zur Warnung vor drohenden Angriffen funktionieren offenbar noch, wie Testläufe kürzlich bewiesen haben. Selbst die Funktion von Türen von Supermärkten ist landesweit digital derart vernetzt, dass Hacker, die sie unterbinden wollen, wie zuletzt in Schweden ganz einfaches Spiel damit haben, Hunderttausende von der Lebensmittelversorgung abzuschneiden. Binnen kurzem drohte unweigerlich Chaos auszubrechen.

Ob man angesichts neo-imperialer Politik, deren Exit-Optionen aktuell kaum zu erkennen sind, noch genügend Zeit haben wird, um ein konventionelles Abschreckungspotenzial aufzubauen, welches ein Übergreifen des Krieges auf Nachbarländer Russlands und Chinas verhindern könnte, steht dahin. Sehr wahrscheinlich ist es nicht.

So gut wie alle Überlegungen, die jetzt in dieser Hinsicht angestellt werden, drehen sich um die Wiedergewinnung einer zwar international eingebundenen, aber nichtsdestotrotz im klassischen Sinne starken Staatlichkeit, die sich vom Angreifer vorgeben lässt, in welcher Hinsicht sie verteidigungsbereit und wehrhaft zu sein hat. Dabei warnte der amtierende Bundespräsident anlässlich der 17. Bundesversammlung den östlichen Autokraten:

Unterschätzen Sie nicht die Stärke der Demokratie!

Aber worin liegt diese Stärke – wenn nicht bloß in ihrem militärischen Potenzial, das in diesem Fall denn auch gar nicht gemeint war? Die politische Gegenwart liefert in dieser Frage ein für viele überraschendes Lehrstück: Selbst Polen, das man mit Recht der Verletzung elementarer demokratischer Grundsätze wie der Unabhängigkeit der Justiz bezichtigt hat und das sich so rigoros abwehrend in der Flüchtlingskrise der Jahre nach 2015 verhalten hat, erweist sich nun als außerordentlich gastliches Land im Verhältnis zu Millionen, die ihr Zuhause verloren haben.

Dabei erfährt es solidarische Unterstützung von so gut wie allen europäischen Staaten im Geist einer hospitablen Europäität, an die viele angesichts dessen, was sich die EU mit ihrer Grenzschutzagentur Frontex im mare nostrum geleistet hat, kaum mehr glauben mochten.

Von den polnischen, aber auch slovakischen, ungarischen u.a. Nachbarn bis hin zur Europäischen Kommission rückt man nun im Geist einer Stärke zusammen, die sich der Bereitschaft verdankt, Andere bei sich aufzunehmen – und nicht der Macht und Gewalt, mit der man sie tödlich bedrohen kann.

Aber wie lange wird dieser Geist standhalten können? Spielt Putin nicht ganz bewusst mit dem Gedanken, die Ukraine erheblich zu entvölkern, um mit dem nicht geflohenen Rest umso besser umspringen zu können, wie es ihm beliebt?

Liegt es nicht ganz in seinem Kalkül, den europäischen Westen, dessen in der Ukraine nachgeahmtes demokratisches Vorbild ihm so sehr schlaflose Nächte bereitet zu haben scheint, durch Millionen weitere Flüchtlinge scheitern zu sehen? Wird er es nicht darauf anlegen, alle westlichen Nachbarstaaten der Ukraine durch deren eigene Aufnahmebereitschaft zu überfordern, so dass diese sich endlich gegen ihre eigene zivile Stärke wenden werden, die man jetzt so sehr bewundert?

Werden die Nachbarn, allen voran Polen, denen die für sie traumatische Geschichte der Sowjetunion noch tief in den Knochen sitzt, nicht mehr und mehr nach einer anderen, fast schon überwunden geglaubten bewaffneten Stärke verlangen, wenn die Lage sich weiter zuspitzt, zumal Russland nun förmlich beweist, dass es vollkommen naiv wäre, in näherer Zukunft auf friedliche Nachbarschaft mit ihm zu vertrauen? In dieser Hinsicht ist schon jetzt ein Totalschaden zu besichtigen.

Der aber könnte auch in den weniger direkt überforderten Staaten des Westens noch zunehmen, wenn man dort unter dem Druck der aktuellen Gewalt vergisst, dass man längst auf dem Weg in ein anderes, besseres Staatsverständnis war.2

So hat der wiedervereinigte deutsche Staat seinen Ursprung im Zeichen des politischen Wunders einer Entmächtigung, zu der es nach 1989, nach dem Fall der Mauer, gekommen ist – und die Putin in Dresden, seinerzeit dort als KGBler angestellt, anscheinend tiefen Schrecken eingejagt hat, als die Bürger, die behaupteten, das Volk zu sein, vor dem dortigen Geheimdienstgebäude auftauchten.

Augenzeugenberichten zufolge drohte er diese Bürger damals ohne Umschweife zu liquidieren, wie man in Russland seit Wladimir I. Lenin gerne sagt, sollten sie das Gebäude besetzen wollen.

Ihnen gab dann allerdings Michail Gorbatschow Recht, indem er es wagte, auch seinem eigenen Land eine Offenheit zuzumuten, in der ihm Dissidenten wie Andrej Sacharow und die NGO Memorial vorangegangen waren. Deren neue Stärke lag in erster Linie in der Bereitschaft, zu sehen und vorbehaltlos anzuerkennen, was vorgefallen war auf dem Weg vom alten Zarismus zur Vernichtungspolitik der imperialen Sowjetunion, deren Verfall Putin so sehr bedauert, dass ihm Stalins Verbrechen zur historischen Nebensache geraten.3

In dieser Hinsicht war das Eingeständnis der Vorfälle von Katyn, wo 1940 ca. 4.400 polnische Kriegsgefangene, darunter viele Reserveoffiziere aus der Führungsschicht des Landes, von einem NKWD-Exekutionskommando erschossen und verscharrt worden waren, ein Meilenstein.

Endlich konnte man die historische Wahrheit zugeben, verantwortlich gewesen zu sein, und auf diese Weise wenigstens eine minimale Voraussetzung dafür schaffen, mit den vom Zusammenwirken Hitlers und Stalins traumatisierten Polen überhaupt wieder ins Gespräch zu kommen.

Auf diesem Weg waren auch wir nach Jahren unsäglicher Leugnung, Verdrängung und selbstgerechter Schlussstrichrhetorik. Mit derartigem Schlussmachen hat das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas weithin sichtbar Schluss gemacht.

Seither bleibt die nicht verheilende Wunde einer überhaupt nicht zu "bewältigenden" Vergangenheit als geschichtliches Vermächtnis für jedermann sichtbar präsent – und die gewählten Vertreter des Staates dulden das nicht nur, sondern wollen es offenbar auch nicht mehr anders. Jedenfalls darf man wenigstens unterstellen, dass dies für die weitaus meisten von ihnen zutrifft.

Seither gilt: was auch immer ein Staat zu sein beansprucht, wie auch immer er sich symbolisch in Szene setzt und sich im Verhältnis zu seinen Nachbarn, zu Minderheiten und Indigenen, auf deren Vernichtung er möglicherweise beruht, definiert, er verdient keine Achtung, wenn er sich nicht wenigstens zu den Opfern bekennt, die er gekostet hat und vielleicht weiterhin kostet. Michel Foucault sagte in einer seiner Vorlesungen am Collège de France über Die Regierung des Selbst und der anderen 4:

Damit der Stärkste vernünftig regieren kann, muss der Schwächste zum Stärksten sprechen.

Gemeint war wohl weitergehend: die Schwächsten bzw. diejenigen, die man dazu gemacht hat, die Opfer oder diejenigen, die sie überlebt haben, müssen Gehör finden können und dürfen. Anders ist vielleicht ein repressiver Staat, aber kein Staat, der Aussicht auf Bestand hat, denkbar.

So gesehen würde die Stärke eines Staates gerade vom Verhältnis zu jenen abhängen, die es von sich aus am allerwenigsten mit ihm aufnehmen können – solange sie nicht aufbegehren, um es in Revolten und Revolutionen auf seinen Umsturz ankommen zu lassen. Wenn es dazu kommen muss, ist der jeweilige Staat bereits zuvor an seiner eigenen inneren Schwäche mehr oder weniger zugrundegegangen, so stark auch immer er dem äußeren Anschein nach noch wirken mag.

Die Gefahr, mit der wir es unter dem massiven Druck eines im Innern bereits weitgehend erodierten und sich deshalb in Neoimperialismus flüchtenden Staat zu tun bekommen, liegt keineswegs nur in den Eskalationsszenarien, die er heraufbeschwört. Sie liegt auch darin, unter diesem Druck und in Verbindung mit Nebenfolgen wie der Flucht von Millionen, die jetzt nach Westen drängen, alles wieder zu vergessen, was man auf dem Weg zu einem besseren Staatsverständnis schon beherzigt zu haben glaubte – auf dem Weg zu einem Staatsverständnis, das sich nicht an tödlichen Gewaltpotenzialen bemisst, sondern gerade an den Schwächsten Maß nimmt, die letzteren wehrlos zum Opfer zu fallen drohen.

Ein Staat, dessen Repräsentanten das nicht begreifen wollen, bräuchte gar nicht erst in eine strahlende imperiale sublunare oder translunare Zukunft aufzubrechen, mit der Amerikaner und Chinesen liebäugeln. Aller falscher Glanz von Paraden, Parteitagen und Olympischen Spielen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass er schon in seiner Gegenwart alles eingebüßt hat, was einen dazu veranlassen könnte, ihm irgendwohin zu folgen, sei es auch nur in die Ideologie seiner eigenen elenden Gegenwart.