Was sind Ursachen von Depressionen?

Seite 2: Bedeutung psychosozialer Faktoren

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Natürlich sind psychosoziale Faktoren Ursachen psychischer Störungen und insbesondere auch von Depressionen. Die Stiftung stellt hier Jahrzehnte der Forschung unterschiedlichster Disziplinen wie der Psychologie, Sozialwissenschaften und Psychiatrie auf den Kopf. Als - nach meinem Wissen - größter ursächlicher Faktor wurden schwere Lebensereignisse (man denke an den Tod eines Nahestehenden, Scheidung, Verlust der Arbeit, Erleben eines Verbrechens) gefunden und vielfach bestätigt.

Wenn man sich die Stärke dieser Effekte anschaut, dann ist diese gut viermal so groß wie alles, was - nach meinem Wissen - die psychiatrische Genetik bisher zu bieten hat. Betrachtet man nur die vier schlimmsten Lebensereignisse, nämlich Tod eines nahen Verwandten, Erleben eines Überfalls, ernsthafte Partnerschaftsprobleme und Trennung/Scheidung, dann sind die Einflüsse sogar mehr als siebenmal so stark. Es ist keinesfalls so, wie die Stiftung Deutsche Depressionshilfe erklärt, dass den Genen "große Relevanz" zukomme. Allenfalls erklären diese kleine Unterschiede zwischen den Menschen, die schlimme Dinge und viel Stress erleben.

Die Effektgröße (Quotenverhältnis oder Odds Ratio) für drei ursächliche Faktoren im Vergleich: Die üblichen Effekte für psychiatrische Risikogene (blau, nach Kendler, 2005) sind um ein Vielfaches kleiner als die für schwere (orange, nach Kendler und Kollegen, 1999) oder schwerste Lebensereignisse (gelb, nach Kendler und Kollegen, 1995). Das Quotenverhältnis gibt an, um wie viel größer die Chance, zu erkranken, in der Gruppe mit einem Risikofaktor ist.

Gene - Heiliger Gral der Psychiatrie

Mit anderen Worten: Es gibt keine Depressionsgene, auch für keine andere Störung, sondern nur eine leicht veränderte genetische Anfälligkeit. Dass der geringe Einfluss der Gene dennoch so verabsolutiert wird, liegt wahrscheinlich daran, dass sie der Heilige Gral der biomedizinischen psychiatrischen Forschung sind: Mit größten Bemühungen gesucht, doch nie gefunden (ADHS und die Suche nach dem Heiligen Gral). Irgendwie muss man die Milliardenförderung für größtenteils klinisch irrelevante Forschung ja rechtfertigen.

Dazu kommt, dass auch die Genaktivität und die von der Stiftung so gerne angeführte "Stoffwechselstörung im Gehirn" natürlich selbst die Folge psychosozialer Ereignisse sein kann. Worauf reagiert denn unser Gehirn, wenn nicht auf Einflüsse und Eindrücke aus der Umwelt? Wozu ist unser Nervensystem und das vieler anderer Spezies denn im Laufe der Evolution entstanden, wenn nicht, um sich in dieser Lebenswelt zurechtzufinden?

Ein Selbstversuch

Jeder mag selbst einen Versuch wagen und einen Bekannten darum bitten, zu einem unvorhersehbaren Moment einen lauten Knall auszulösen, etwa indem man eine Tür sehr laut zuschlägt. Der Schreck (in der Psychologie: Schreckreaktion, startle response) geht wahrscheinlich mit einer messbaren Veränderung des Atems, des Herzschlags, der Hautleitfähigkeit und bestimmter Botenstoffe einher; und ja, diese Prozesse sind vom Nervensystem gesteuert. Aber was ist denn nun die Ursache? Das Nervensystem oder der Knall? Übrigens haben Menschen, die seit Jahren meditieren, im Mittel eine messbar geringere Schreckreaktion. Vielleicht liegt das daran, dass Erfahrungen den Stoffwechsel im Gehirn beeinflussen?

Fazit: Der von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe konstruierte Widerspruch zwischen psychosozialen und biologischen Faktoren ist in Wirklichkeit gar keiner: Die biologischen Reaktionen sind Vermittler der psychosozialen Ereignisse. Wenn man Körper und Geist als Einheit sieht, dann ist diese Feststellung trivial; wenn man Ursachen auf der Ebene von Prozessen - also etwa biologisch gegenüber psychosozial - unterscheidet, dann muss man auch die zeitliche Reihenfolge und die Effektstärke berücksichtigen.

Dass jedenfalls Stress eine der Hauptursachen für Depressionen und andere psychische Störungen ist, ist schon lange wissenschaftlich gesichert. Dabei kommt biologischen, entwicklungsbedingten (etwa Kindesmisshandlung, Vernachlässigung), psychologischen (etwa Denkstile, Persönlichkeitsfaktoren) und soziodemographischen Faktoren (wie den bereits genannten Lebensereignissen) eine Vermittlerrolle zu.