Was sind Ursachen von Depressionen?

Seite 3: Politische Brisanz

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Darum ist es verquer, falsch und auch politisch brisant, der Allgemeinheit weiszumachen, sie überschätze den Einfluss psychosozialer Einflüsse auf Depressionen gegenüber den biologischen. Wer es nämlich schlicht als biologische Tatsache annimmt, dass er depressive Symptome hat, der wird auch vor allem auf der biologischen Ebene nach der Lösung suchen, also mit Psychopharmaka, Elektroschocks (auch EKT genannt, Elektrokrampftherapie), Tiefenhirnstimulation und eines Tages vielleicht Gentherapie (Wenn Psychologie politisch wird: Milliarden zur Erforschung des Gehirns).

Die Biologie kann durchaus die beste Anlaufstelle sein - Stressvermeidung und die Stärkung des sozialen Netzes werden in der Praxis aber für die meisten Menschen eine viel größere Rolle spielen. Nun lassen sich bestimmte schwere Lebensereignisse, beispielsweise die Todesfälle Nahestehender, nicht aus der Welt schaffen. Wie stark sich aber etwa der Verlust eines Arbeitsplatzes auf einen Menschen auswirkt, hängt auch von der sozialen Absicherungen und von Freundschaften ab. Verliert man damit seine finanzielle Perspektive, verliert man vielleicht auch die meisten Freunde, gar die Partnerschaft und die Wohnung, dann wird einen dieses Ereignis ungleich schwerer treffen (man denke an Stress, Angst und Einsamkeit, die einander gegenseitig verstärken). Auch von solchen lebenspraktischen Erwägungen lenkt das biologische Denken ab.

Was ist eine "Gehirnstörung"?

Zum Schluss noch zwei Bemerkungen zum Begriff der "Gehirnstörung" und der Behauptung, Psychopharmaka würden im Gehirn "gezielt" wirken, um eine Stoffwechselstörung zu beheben. Beide würden eine eigene Abhandlung verdienen. Daher nur kurz als Anregung zum Nachdenken:

Wenn Depressionen (oder eine beliebige andere psychische Störung) eine Gehirnstörung ist, warum kann man sie dann eigentlich nicht im Gehirn diagnostizieren? Und warum kann man dann nicht mit einem Gehirnscan, der beispielsweise die Konzentration von Neurotransmittern misst (wie die Positronenemissionstomographie), feststellen, ob jemand genesen ist? Das wäre nicht nur für Ärzte, sondern auch die eingangs erwähnten Rentenkassen äußerst praktisch; schließlich könnte man dann Simulanten von echten Depressiven unterscheiden. Davon hängen je Einzelfall schnell hunderttausende Euro ab.

Probleme der Abgrenzung

Nein, "Depression" (in der Fachsprache: major depression) ist eine Definition unserer Zeit und Kultur für eine vielfältige Symptomatik, die manche Menschen unter bestimmten Bedingungen erleben. Das macht die Probleme für die Betroffenen nicht minder schwer und ernsthaft, lenkt aber die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass Experten am Konferenztisch entscheiden, was eine Depression ist.

Wo hört sie beispielsweise auf und wo fängt die Angststörung an, wo die Schizophrenie ("Es gibt keine Depressionen")? Darauf gibt es Antworten - aber eben unterschiedliche und es bleibt immer in Rest, der im Auge des Betrachters liegt. Gerade darum suchen so viele Forscher weltweit ja nach zuverlässigen Biomarkern für psychische Störungen, um diese schwierigen Probleme zu lösen, bloß bisher ergebnislos.

Erinnern wir uns noch einmal daran, dass man früher bei Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten sofort eine Gehirnstörung diagnostizierte: Die Diagnose MBD (minimal brain damage, später etwas abgeschwächt: minimal brain dysfunction) war geboren. Heute spricht man von der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS (30 Jahre Aufmerksamkeitsstörung ADHS). Dennoch hat man den vermeintlichen Hirnschaden dieser Kinder bis heute nicht gefunden.

Wirkung von Antidepressiva

Nun zum zweiten Punkt: Wenn Antidepressiva so gezielt wirken, wie es die Stiftung Deutsche Depressionshilfe beschreibt, warum verschreibt man sie dann beispielsweise auch gegen Angststörungen? Oder gegen Zwangsstörungen? Oder gegen Essstörungen? Oder zur Behandlung vorzeitiger Samenergüsse? Und warum wirken sie, wenn überhaupt, im Mittel nur leicht besser als Placebo?

Oder warum überflutet man das ganze Gehirn mit Botenstoffen, wenn es doch um die Behandlung einer räumlich eingrenzbaren Gehirnfunktionsstörung geht? Noch 2010 schrieb etwa Thomas Insel, früherer Direktor des National Institute of Mental Health, der wichtigsten psychiatrischen Forschungseinrichtung weltweit mit Milliardenbudget, zur Behandlung von Depressionen müsse man den subgenualen zingulären Gyrus im Gehirn, auch bekannt als Brodmann-Areal 25, "rebooten". Psychopharmaka wirken, anders als es die Stiftung Deutsche Depressionshilfe verbreitet, gerade nicht "gezielt".

Allgemeinheit schon gut informiert

Nein, die Allgemeinheit ist, was den Einfluss psychosozialer Effekte auf die psychische Gesundheit angeht, schon sehr gut informiert. Das biologische Wissen wird wahrscheinlich eher noch überschätzt, wenn man sich überlegt, wie wenig man damit in der Praxis anfangen kann. Ich kann mich freilich auch irren - aber dann bitte ich die Stiftung Deutsche Depressionshilfe um zuverlässige wissenschaftliche Belege und Antworten auf meine Fragen.

Postskriptum: Noch eine Kleinigkeit zum Schluss: Die Stiftung spricht von jährlich 5,3 Millionen "behandlungsbedürftigen" Depressiven in Deutschland. Das kann aber niemand so genau wissen. Epidemiologen wie Frank Jakobi oder Hans-Ulrich Wittchen, auf deren Forschung die Stiftung sich beruft, zählen stattdessen Symptome in repräsentativen Gruppen. Die Behandlungsbedürftigkeit lässt sich aber nur im individuellen diagnostischen Gespräch feststellen. Eine Diagnose ist eben nicht dasselbe wie eine Klassifikation. Das heißt, wer mit den Symptomen gut lebt und gut funktioniert, der ist auch nicht behandlungsbedürftig.

Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.