Was war "Matrix". Und warum?
Seite 2: Neo braucht Therapie
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Der größte Trumpf dieses vierten "Matrix"-Films ist auch dessen größte Gefahr: Denn "Matrix Resurrections" ist kein einfaches Sequel, keine schlichte Fortsetzung, kein nächstes Kapitel der Geschichte, sondern – auch hierin bleibt man den Vorgängerfilmen treu – eine neue Dimension.
Es beginnt mit einer Szene, die fast komplett der Auftaktszene im allerersten "Matrix" entlehnt ist: Thomas Anderson/"Neo" (Keanu Reeves) wird aus einer anderen Realitätsebene kontaktiert und weiß zunächst nicht, wie ihm geschieht. Bald stellt sich heraus: Ein paar Jahre nach Ende des letzten "Matrix"-Films, "Revolutions", braucht ein gealterter, unter Burnout-Symptomen leidender, äußerlich ungepflegter, wie ein Penner gekleideter, innerlich zerstörter Neo eine Therapie.
Er hat Angststörungen, weil er sich seiner eigenen geistigen Gesundheit nicht mehr sicher ist - und wer die drei Vorgängerfilme kennt, ahnt, warum. Regelmäßige Besuche beim Analytiker sollen ihm nun dabei helfen, sich wieder in der Welt (?) zurechtzufinden. In dieser ist Neo ein Software-Entwickler, der eine erfolgreiche Computerspiel-Trilogie kreiert hat. Und diese Trilogie heißt – genau: "Matrix".
Längst kontrollieren die Konzerne diese Franchise, und bereits in den ersten Minuten dieses Films heißt es: "Unsere geliebten Chefs wollen eine Fortsetzung der Trilogie. Sie werden es mit oder ohne dich tun." – dies ist die erste von vielen Metaebenen, die dieser Film öffnet: Ironisch bis sarkastisch kommentieren die Dialoge auch die "Sequelitis" in Hollywood, und führen damit zugleich eine neue Realitätsebene in das Universum ein: Die virtuelle Welt, die von der Matrix erschaffen wurde, enthält ihre eigene Version einer Matrix. Damit wird auch die "reale Welt" der Vorgängerfilme zu einer möglichen Simulation degradiert.
Einmal mehr muss Thomas/Neo darum "dem weißen Kaninchen folgen" und all seiner persönlichen Probleme zum Trotz die wahre Welt in der scheinbaren finden. Hierbei begegnet er einer neuen jungen Hacker-Generation, wie der smarten Bugs (Jessica Henwick, bekannt aus "Star Wars", ist die große Entdeckung und Bereicherung dieses Films), die umgekehrt auf der Suche nach dem Einen, der von ihr so verehrten Legende Neo ist.
Zugleich begegnet er auch seiner alten Kampfgefährtin Trinity (Carrie-Anne Moss) – oder ist diese doch nur die exaltierte Vorstadt-Ehefrau und Mutter von drei Kindern namens Tiffany, die eine Vorliebe für superstarke Motorräder pflegt?
Die reale Zeit seit den ersten Filmen - und zugleich die vergangenen Handlungsebenen mit ihren Zeit- und Raum-Reisen - führen zu dem so interessanten wie irritierenden Ergebnis, dass hier gealterte Darsteller mit ihrem jungen Alter-Ego in den zahlreichen Rückblicken, sowie mit digitalen Verjüngungen und Neubesetzungen auf der Leinwand zusammentreffen. Letztere liegen nicht in jedem Fall auf der Hand: Der ehemalige "Morpheus"-Darsteller Lawrence Fishburne stand zur Verfügung, wurde aber nicht gefragt, sondern durch Yahya Abdul-Mateen ausgetauscht.
Warum auch nicht? Auch das Geschlecht der Wachowskis hat gewechselt - als ob der erste Film auch auf seiner Herstellungsebene nur eine Matrix gewesen sei. So verschränken sich alle Ebenen.
Die Prämisse aller bisherigen "Matrix"-Filme ist die der Diktatur des Scheins der Realität in der Realität, dem Wahren im Falschen und der Entlarvung des Trugs. Diese Prämisse führt dazu, dass sich wie bei einer russischen "Matroschka"-Puppe in jedem Film die scheinbare Realitätsebene als nur ein subtilerer Betrug erschließt, und die Haupt-Figuren ein immer komplexere Welt- und Selbstreflexion haben.
Willkommen in der Wüste der Theorie!
Aber die Frage ist, inwieweit alle Realität, alle Fakten verfügbar sind? Können wir immer wiederauferstehen und quasi neu geboren werden. Oder sind die konstruktivistische Prämisse nicht am Ende nur eine postmoderne, avancierte Version eines alten Mystizismus und esoterisches Abrakadabra?
Gibt es anstelle "der Wüste des Realen" (Jean Baudrillard) nicht eher eine Wüste der Theorie?
Die Züricher Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen, die fraglos zu den schlauesten Köpfen der Poststrukturalisten gehört, erkannte die Vorläufer der "Matrix" schon sehr früh im Märchen. In der "schicksalhaften Geste des Aufbegehrens" (Bronfen) verbirgt sich nicht nur die Einsicht "in die Notwendigkeit der Kontingenz", der auch die postmoderne Attacke auf die Moderne anheimfällt, sondern alte pubertäre Revolte und neuer Infantilismus.
Vielleicht sind Neo und seine Mitkämpfer ja Rebellen, die aus übermäßiger Chomsky-Lektüre die falschen Schlüsse gezogen haben und zu Vorläufern des bösen Clowns Donald Trump geworden sind, und jetzt an einer neuen Querfront basteln?
Bronfens Beschreibung von Neos Bewusstseinszustand, dem das "Ich ein Fremdkörper" geworden ist, der unter dem "Gefühl der Entortung" leidet und den "Zustand des wahren Wissens" sucht, ist ebenso schlüssig, wie seine Antwort, anstelle der blauen Viagra-Pille vom Gott des Schlafs (Morpheus) die "rote" Durchschlafkapsel einzuwerfen.
Der größte Trumpf dieses vierten "Matrix"-Films ist auch dessen größte Gefahr: Denn "Matrix Resurrections" ist kein einfaches Sequel, keine schlichte Fortsetzung, kein nächstes Kapitel der Geschichte, sondern – auch hierin bleibt man den Vorgängerfilmen treu – eine neue Dimension.
Was bei solchen Existenzweisen und Lebensformen nach zwei Jahrzehnten herauskommt, führt "Matrix Ressurections" nun vor: Burnout, Realitätsverlust, Therapie...
Der alte Zauber fehlt
Visuell ist auch dieser Film wieder "state-of-the-art", ein adäquater Reboot, das Computerspiel-Ästhetik mit Comic-Optik mischt.
Die Handlung teilt sich in einen erstem, recht "philosophischen" und dialog-dominierten Teil und eine zweite Hälfte, die von konventioneller Action geprägt ist. Immer wieder gibt es Ausschnitte aus den alten Filmen, recyceltes, als "Rückblick" etikettiertes Material. Unter diesem Aspekt, der wieder aufgewärmten Metaebene und das Recyceln von Zuschauer-Erfahrungen, die gute 20 Jahre alt sind, gibt es eine erstaunliche Ähnlichkeit zwischen "Matrix Resurrections" und dem letzten "Spider-Man"-Film.
Das ist weit besser gelungen, als bei jenem; es ist kurzweilig und verrät die alten Filme nicht. Zugleich bleibt vieles pure Nostalgie. Der alte Zauber will sich bei alldem nicht recht einstellen; aber vielleicht ist das auch zuviel verlangt. Nur den wenigsten ist es vergönnt, das Kino in ihrem Leben mehr als einmal zu erfinden.
Literaturhinweis:
Georg Seeßlen: "Die Matrix entschlüsselt"; Berlin 2003