"Was wir jetzt erleben, ist der Zusammenbruch der Diplomatie"
Christian Hacke über einen Ausweg aus dem Ukraine-Krieg, die Reaktionen der Menschen in Ost und West sowie das fehlende historische Gedächtnis in Berlin.
Herr Hacke, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat vor wenigen Tagen mehrere Dekrete über die Bildung einer seit 2014 bestehenden Trilateralen Kontaktgruppe aus der Ukraine, Russland und der OSZE für nichtig erklärt und die Delegation aufgelöst. Welche Kanäle bleiben noch für eine politische Lösung?
Christian Hacke: Unabhängig von der Bedeutung dieser Kontaktgruppe erleben wir derzeit, dass Diplomatie wohl nicht stattfindet, auch keine Geheimdiplomatie. Auf der Beerdigung von Michail Gorbatschow vor wenigen Tagen war der einzige Vertreter des Westens der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán. Das ist ein abstoßendes Bild: Orbán als Repräsentant des Westens, der Europäischen Union. Denn dort ging es um die Würdigung von Gorbatschow und nicht um die der aktuellen russischen Führung.
Dass Deutschland es versäumt hat, dort einen hohen Repräsentanten, ja vielleicht sogar den Bundespräsidenten oder einen Minister oder den Bundeskanzler hinzuschicken, das halte ich für einen fatalen Fehler.
Zur Zeit von Helmut Kohl oder Helmut Schmidt hätte man in so einer angespannten Situation eine Art Beerdigungsdiplomatie angestrebt. Man hätte zumindest einen Horst Teltschik hinschicken können. Aber das, was wir jetzt erleben, ist der Zusammenbruch der Diplomatie. Man könnte sagen: Es gibt keine Chance, aber wir müssen sie nutzen.
Aber es nicht zu versuchen – das fiel mir ein, als ich die Feierlichkeiten im Fernsehen gesehen habe – das war das Enttäuschende. Es war auch würdelos.
Welches Gremium wäre denn für eine diplomatische Offensive geeignet?
Christian Hacke: Das könnte bei den Unterzeichnern des Budapester Memorandum von 1994 angesiedelt sein: Amerika, Russland, Großbritannien und Ukraine. Das wäre eine konfrontative Angelegenheit, aber diese Verhandlungspartner von damals waren verantwortlich für die Abschaffung der Nuklearwaffen und übernahmen deshalb die Garantien für die Sicherheit der Ukraine. Daran muss man sie erinnern.
Natürlich müsste es auch die UNO versuchen oder auch ausgewählte Staaten mit neutralen Ambitionen. Aber das Entscheidende ist, dass alles geheim versucht wird, – geheim und noch mal geheim.
Leider beobachten wir derzeit das Gegenteil, eine Art Sucht, sich in der Öffentlichkeit selbstherrlich und selbstgerecht darzustellen; das verhindert natürlich jede Möglichkeit des Kompromisses. Der Einzige, der im eigenen Interesse die Klaviatur der Diplomatie zu spielen versteht, ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan.
In der Tat hat die Politzeitschrift Foreign Affairs berichtet, dass in Istanbul Ende März schon eine erste Einigung auf dem Tisch lag. Trotzdem scheinen die Konfliktparteien von einer politischen Einigung weiter denn je entfernt zu sein. Woran liegt das?
Christian Hacke: An der Korrelation der Kräfte. Im Moment schätzen beide Seiten, also die Ukraine und der Westen einerseits und Russland andererseits, ihre eigenen Kräfte so ein, dass sie immer noch gewinnen können. So propagiert der ukrainischen Präsidenten Selenskyj Sieg und Rückeroberung der besetzten Gebiete. Aber entweder ist diese Offensive noch nicht angelaufen oder bereits gescheitert. Der ukrainische Seite fehlen zur Offensive die Mittel.
Zudem führt die Rhetorik von Putin auch in die Irre. Er verschleiert, er lügt, aber leider kommt ihm die Korrelation der wirtschaftlichen, militärischen und psychologischen Kräfte derzeit eher entgegen als Selenskyj. Dazu wird er vermutlich weiter brutal vorgehen oder sogar die Brutalität noch steigern.
Kurzum: Ich sehe bedauerlicherweise derzeit auf keiner Seite die Bereitschaft, in Verhandlungen einzutreten. Putin weiß, was er will. Und er kann es auch vermutlich erreichen, weil er die Eskalationsdominanz und die Eskalationsbereitschaft besitzt.
Trotzdem bleibe ich dabei: Auch wenn es keine Chance zur diplomatischen Einigung gibt – Wir müssen sie trotzdem weiter versuchen!
Eskalationsbereitschaft; militärisch, aber auch energiepolitisch
Vor gut zwei Jahrzehnten hat Putin dem Westen im Bundestag auf Deutsch Kooperation angeboten, auch später noch war er in Berlin zu Gast. Woher der Wandel?
Christian Hacke: Der Krieg begann am 24. Februar, aber wir dürfen die Vorgeschichte nicht vergessen: Die Erweiterung der Nato um 1.300 Kilometer und die der EU haben Putin erzürnt. Putin entwickelte eine unbändige Wut gegenüber der Arroganz des Westens. Also, wer Russlands Sicherheitsinteresse derart herausfordert, muss mit allem rechnen und sich deshalb rechtzeitig warm anziehen. Sonst wird er kalt erwischt. Das passierte am 24. Februar.
Putin glaubt bis heute, dass der Westen dekadent ist und sich im Kräfteringen nicht behaupten kann. Darin könnte er sich ebenso verschätzen, wie er den bisherigen Kriegsverlauf eklatant falsch eingeschätzt hat.
Aber, und das ist derzeit das Entscheidende: Er hat, wie zuvor erwähnt, die Eskalationsbereitschaft; militärisch, aber auch energiepolitisch. Da hat er das Besteck noch gar nicht ausgepackt.
In militärischen Kreisen ist wiederholt gewarnt worden, und zwar von unterschiedlichen Seiten, ein Andauern dieses Krieges über den Winter hinaus in Kauf zu nehmen, mit diesem Konflikt in den kommenden Winter zu gehen. Für wen spielt der Faktor Zeit?
Christian Hacke: Das ist ganz schwer einzuschätzen. Aber Sie sehen schon angesichts der Ereignisse in Tschechien …
… in Prag hatten am Samstag nach Polizeiangaben rund 70.000 Menschen gegen steigende Energiepreise demonstriert.
Christian Hacke: Daran sehen Sie, dass wir nicht so geduldig sind. Wir haben nicht diese Leidensfähigkeit der Russen. Und wir leben zugleich in einem freiheitlichen System, in dem Proteste möglich sind, anders als in Russland.
Es kommt hinzu, dass sich bei uns die Leute zunehmend fragen: Wozu leiden wir? Und auch, wenn unsere Lage nicht mit der Lage der Menschen in der Ukraine zu vergleichen ist, so wird diese Frage ja immer lauter gestellt.
Ich würde auch gerne wissen, wie viel der Ukraine-Krieg bislang den Westen gekostet hat.
In Deutschland sind bislang drei Entlastungspakete auf den Weg gebracht worden, wobei auch der letzte Maßnahmenkatalog auf ein sehr geteiltes Echo gestoßen ist. Wie gut sind wir gewappnet?
Christian Hacke: Mit Blick auf die Tschechei und die Proteste am Wochenende könnte es sein, dass wir vor Wellen stehen, im Herbst und im Winter. Vor Protesten, bei denen die Leute fragen: Warum diese Einbußen, wenn es in der Ukraine noch immer keine Perspektive für Frieden gibt?
Oder: Unsere Sanktionen haben offensichtlich weit weniger Wirkung als die russischen auf uns? Oder:
Jeder weitere Tag Krieg zerstört Land und Leute dermaßen, dass es nicht länger mit anzusehen ist. Es muss diplomatisch eingegriffen werden und wir müssen Kiew ehrlicherweise auch sagen: Leute, wir geben euch keinen weiteren Freibrief, sondern ihr müsst endlich Kompromissbereitschaft zeigen, sonst wird euer Land völlig zerstört werden.
Frau Baerbock ist nicht korrigierbar
Diese Einschätzung klingt erheblich anders als die von Außenministerin Annalena Baerbock, die hat just in Prag, wenige Tage vor den Protesten auf einem Podium saß und vehement für die Beibehaltung der Russland-Sanktionen geworben hat. Den Nebensatz dazu kennen Sie ja.
Christian Hacke: Frau Baerbock ist nicht korrigierbar; sie steht im absoluten Einklang mit den Amerikanern. Hier sehen sie die neue außenpolitische Achse zwischen machtpolitischer und antirussischer Aggressivität der USA sowie deutschem Idealismus nach dem Motto: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen. Man negiert 20 Jahre gescheitertem Demokratieexport von Afghanistan über Irak bis Libyen und träumt sich wieder in eine unipolare Welt von 1990, in Berlin und in Washington.
Doch hier haben es die Demokratieexporteure mit anderen Kräften zu tun: Die Ukraine ist nicht Taiwan, und Russland – und erst recht China – sind Weltmächte. Sich mit ihnen anzulegen, könnte noch viel teurer werden, als heute Baerbock und Blinken annehmen.
Jetzt kommen wir zum Schlüsselfaktor. Die US-Regierung von Joe Biden tritt nicht für eine Friedenslösung im Ukrainekonflikt ein, sondern will Russland in die Knie zwingen. Ähnliche Äußerungen gibt es von Frau Baerbock. Dann kann man weiter fragen: Wo bleibt das historische Gedächtnis?
Russland hat gegen Napoleon bestanden. Russland hat gegen die Hitler-Invasion bestanden. Und dann glaubt der Westen, dass Russland diese Politik des Westens nicht überstehen würde? Ja, dass Russland in der Ukraine besiegt werden könnte?
Nun haben Sie die sicherheitspolitischen Debatten über viele Jahre hinweg verfolgt, auch als Dozent an der Universität der Bundeswehr in Hamburg. Wie sehen Sie die aktuelle die Position der Ampelkoalitionäre, die sich ja wenig zu unterscheiden scheint?
Christian Hacke: Sie steht nach außen geschlossen da. Das ist das Mantra der Koalition und des Westens: Geschlossenheit demonstrieren. Es wäre fatal, wenn die Regierung zeigen würde, dass sie in Bezug auf die Ukraine wanken würden.
Schauen Sie, hier gibt es auch Gruppenzwang; dieses Verhalten ist nicht nur politisch relevant; es ist auch psychologisch bedeutsam. Es gibt einen Gruppenzwang innerhalb der Regierungskoalition: Wir müssen zusammenstehen! Und das tun sie, wenn auch mit unterschiedlicher Abschattung.
Ich glaube schon, dass Bundeskanzler Scholz derjenige ist, der am ehesten zu einem diplomatischen Ansatz bereit wäre. Er führt mit Vorsicht, also er fährt auf Sicht; das ist nicht unklug. Gerne hätte ich gewusst, wie er wirklich über die Amerikaner denkt.
Auch wenn Sie das westliche Bündnis nehmen – ob EU oder Nato –, der Gruppenzwang ist offensichtlich. Jeder würde, wenn er jetzt ausscheren würde, als Außenseiter, als Aussätziger diskriminiert werden. Dann würde es heißen: Du hast uns verraten! Und deswegen wagt das keiner.
Das Gleiche gilt für den innenpolitischen Bereich. Nur wenige, etwa Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, wagen es, zu sagen, dass diplomatische Initiativen nötig sind und dass es nicht so deprimierend weitergehen kann.
Auch wenn dieser historische Vergleich schief ist: Ich spüre, es weht ein Hauch von 1914 durch Europa. Sie wissen, was ich meine: Es gibt so eine Art Automatik. Keiner steigt herunter von seinem hohen Ross. Die Eskalation geht weiter, ungebremst; Putin will weiter in seinem Angriffskrieg obsiegen und der Westen verneint jegliche politische Mitverantwortung für die Eskalation vor Ausbruch des Krieges.
Mehr Selbstbescheidenheit auf westlicher Seite und Verständnis für die Sicherheitsinteressen Russlands hätten eine neutrale und friedliche Lösung für die Ukraine möglich gemacht. Das Versäumnis hat auch der Westen mitzuverantworten.
Das ist jetzt Schnee von gestern, aber auch diese Erinnerung bleibt wichtig und sollte uns davor bewahren, Putin allein zu dämonisieren und unsere eigene Rolle schönzureden. Er ist auch so schon schlimm genug und: Wir sind nicht so schön, wie wir – solidarisch – glauben.
Wenn man die Gegenseite, also Putin, dämonisiert und den Konflikt emotionalisiert, dann hat man damit die Entschuldigung, nichts zu tun. Man kann einfach sagen: Mit so einem Mann können wir nicht reden. Und das ist das Allerschlimmste. Denn was ist das Gebot der Stunde?
Man muss mit dem Teufel Tango tanzen, wenn man zu einem Ergebnis kommen will. Das ist bitter. Aber wenn wir es nicht tun, dann geht alles weiter den Bach runter und die Ukraine wird weiter zerstört. Und die Menschen werden leiden. Aber viele Menschen dort, gerade im Osten, die wollen ein Ende des Krieges, egal, wo sie künftig hingehören.
Sie haben angesprochen, wie schwer es ist, sich dem dominanten Diskurs zu verweigern und eine andere Haltung einnehmen. Das haben Sie selbst gemerkt, als Sie sich unlängst auf einer schwarzen Liste der Ukraine wiedergefunden haben, gemeinsam mit anderen Personen, die von einem Verantwortlichen in Kiew als "Informationsterroristen" bezeichnet wurden. Fühlen sie sich von der Bundesregierung hinreichend geschützt?
Christian Hacke: Ich habe darüber nicht nachgedacht, weil mir nichts passieren kann. Es ist ja schließlich nicht so, dass die Ukrainer hier bei uns irgendwas machen würden, so wie die Iraner mit Salman Rushdie.
Diese Listung ist für mich, das muss ich so sagen, unter der Gürtellinie, also nicht erwähnenswert. Darauf antworte ich nicht. Ich bin ein meinungsfreudiger Mann. Aber ich reagiere nicht auf Propaganda. Das ist auch, ich bitte um Nachsicht, unter Niveau.