Was wir vom Rätsel Bewusstsein lernen können
Seite 2: Das verschwundene Subjekt
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Was hat das mit dem Problem des Bewusstseins zu tun? Sehr viel. Denn ebenso, wie man das objektiv und dann vor allem materialistisch-reduktionistisch lösen wollte, wurden Mensch und menschliches Leiden immer weiter objektiviert.
Was durch diese "evidenzbasierte" Brille nicht sichtbar ist, gibt es für den Forscher schlicht nicht. Hieran sieht man, wie bedeutend die Entscheidung darüber ist, was man als Evidenz zulässt, also wie man Wissenschaft versteht.
Und Menschen mit psychischen Problemen fühlen sich auch heute oft unverstanden, nicht ernst genommen, stigmatisiert. Nicht einmal dieses Versprechen hat der biomedizinische Ansatz eingelöst. Man forscht einfach immer weiter und weiter und verschiebt die Hoffnung auf neue Behandlungen so auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Zählt das heutige Leiden der vielen Millionen Patientinnen und Patienten, allein in Europa, etwa nicht?
Glücklicherweise hat man sich nun in Teilen der Humanwissenschaft vom reduktionistischen Denken gelöst, weil es einen in vielen Fällen nicht weiterbringt. Der neue Ansatz des "New Mechanism" integriert verschiedene Erklärungsebenen, anstatt sie auf irgendeine grundlegende Ebene reduzieren zu wollen.
Die Zukunft sieht interdisziplinär und vielschichtig aus, nicht einseitig. Hoffentlich wird die neue Wissenschaft auch das Qualitative und Subjektive wieder integrieren. Dafür gib es immerhin erste Anzeichen.
Von Mechanismen zum Sinn
Doch nehmen wir einmal an, wir hätten eine vollständige naturwissenschaftliche Beschreibung vom Bewusstsein. Was wüssten wir, wenn wir genau wüssten, wo und wann im Nervensystem bei diesem oder jenem psychischen Prozess etwas mehr Strom fließt?
Schon Mathematiker und Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) dachte sich hierfür ein treffendes Gedankenexperiment aus: Selbst wenn wir ein denkendes System so vergrößern könnten, dass wir in ihm herumlaufen und es studieren könnten wie eine Windmühle, würden wir das Wahrnehmen, Denken und Fühlen so nicht verstehen (Monadologie, §17).
Rund 150 Jahre später erregte der berühmte Physiologe Emil du Bois-Reymond (1818-1896) mit seiner Ignorabimus-Rede aufsehen. Darin behauptete er, wir würden niemals verstehen, wie aus Materie und Energie Gedanken entstehen. Bis heute haben er und Leibniz Recht behalten, während die Versprechen der Autoren des Manifests, die man mit ihrem Programm wohl als Naturalisten bezeichnen darf, weiter uneingelöst sind.
Karl Popper (1902-1994) sprach bereits vom "Schuldscheinmaterialismus", der die fehlende Erklärung immer weiter in die Zukunft verschiebt. Wie viel Evidenz braucht es noch, um diesen Forschungsansatz als falsifiziert einzumotten? Wissenschaftler halten sich doch sonst auch an die Erfahrung: Wenn man schon hundertmal nicht mit dem Kopf durch die Wand kam, wieso sollte es beim Hundertunderstenmal auf einmal klappen?
Doch fragen wir uns noch einmal: Was wüssten wir eigentlich, wenn es einmal so eine Erklärung des Bewusstseins gäbe? Inwiefern würde sie uns als Menschheit weiterbringen? Gäbe uns eine Theorie des Bewusstseins oder gar eine Weltformel Anleitung fürs Leben? Wohl kaum.
Selbst wenn wir von jedem Atom, subatomaren Teilchen, jedem Energiequäntchen im Universum Ursprung, Herkunft und Ziel wüssten und so eine Weltformel hätten, würde daraus nichts für Bedeutung und den Sinn unseres individuellen Lebens und als Menschheit folgen. Die Frage, wie wir richtig und gut leben und zusammenleben können, bliebe offen.
Orientierung und Einheit
Es ist kein Zufall, dass "Materialismus" in der Alltagssprache bedeutet, dass Gewinn und Besitz - was wir landläufig "materielle Güter" nennen - das Wichtigste im Leben sind. Denn in der Welt des philosophischen Materialismus sind Werte nicht vorgesehen:
Es herrscht ein Nihilismus, alle Standpunkt sind gleich sinnlos. Ohne moralische Orientierung werden Menschen im Endeffekt wohl schlicht das tun, was ihr Belohnungssystem aktiviert; und dies wiederum ist eine Folge angeborener Strukturen und sozialer Konditionierung. So sind sie immerhin gute Arbeitskräfte und Konsumenten.
Wir sehen, dass uns dieser Standpunkt keine Leitlinien für das gute Leben bietet: Weder dafür, wie wir selbst leben sollen, noch wie wir mit anderen Menschen oder anderen Völkern zusammenleben sollen. Allerdings stimmt auch der Gegenstandpunkt, dass Religionen nicht unbedingt notwendig für ein Wertesystem sind und sie auch nicht immer die besten Werte vermitteln.
So weit ist man in der Philosophiegeschichte aber schon lange. Woran sollen sich Menschen im 21. Jahrhundert also orientieren?
Problematische Werturteile
Diese Lücke können die Natur- und auch die Sozialwissenschaften nicht auffüllen. Wie im Werturteilsstreit Anfang des 20. Jahrhunderts überzeugt dargelegt wurde, dürfen die Wissenschaften politisch-gesellschaftliche Ziele nur nach Vorgabe informieren, etwa in der Form: Wenn die Reduktion der sozialen Ungleichheit oder der Umweltverschmutzung ein Ziel ist, dann ist Gesetz soundso die beste Wahl. Die Zielsetzung selbst kann aber nicht aus der Wissenschaft kommen.
Wir haben uns darauf geeinigt, dass diese im demokratischen Entscheidungsfindungsprozess zustande kommen soll - auch wenn man den heutigen Zustand etlicher Demokratien kritisieren kann (und vielleicht sogar muss). Für die Forschung ist aber die Einsicht ganz bedeutend, dass die Entscheidung darüber, wie geforscht wird und was als Evidenz zählt, ebenfalls auf Werten basiert.
Wer alles Subjektive von Anfang an als unwissenschaftlich ausschließt, wird später nimmermehr die Menschen verstehen können! Und auch am Bewusstsein und menschlichen Leiden vorbei forschen. Dann berichten uns nach jahrzehntelangen Bemühungen die führenden Forscher eben Ergebnisse, die ans Topfschlagen beim Kindergeburtstag erinnern: In der hinteren Großhirnrinde befinde sich die "heiße Zone".
Und spezifisch zur Religion: Es ist eine empirische Tatsache, die auch und vor allem Naturalisten anerkennen sollten, dass sich die große Mehrheit der Menschheit außerhalb der säkularen westeuropäischen Enklave nach wie vor an religiösen Systemen orientiert. Und selbst aus dem Westen pilgern seit den 1960er Jahren viele Sinnsucher nach Asien.
Das Leben scheint ohne Spiritualität oder gar Religion für viele unangenehm leer zu sein. Und in den östlichen Kulturen gibt es genügend Orientierung, die dem Einzelnen im Ganzen Sinn und Bedeutung gibt: beispielsweise der Konfuzianismus mit der moralischen Natur der Welt, der Daoismus mit seinem dao (Weg), ähnlich dem japanischen do (Weg), oder der Hinduismus mit dharma und karma (etwa: moralische Ordnung beziehungsweise Gesetz von Ursachen und Wirkungen des Handelns).