Was wird aus dem Internet?
Strategiediskussion im Sommerloch
Das Internet steht vor der größten Herausforderung seiner dreißigjährigen Geschichte. Mehr als eine Milliarde Menschen nutzen es, aber noch immer werden die Kernressourcen des Internet von der US-Regierung kontrolliert. Und immer mehr Länder, deren Sprache nicht auf dem lateinischen Alphabet basiert, erwägen einen eigenen Internet Root aufzubauen mit Top Level Domains (TLD) in chinesischer, kyrillischer, arabischer, persischer Sprache. Droht das Internet zu zerfallen?
Das Internet kennt kein Sommerloch, wohl aber die Politik. Die Internet-Politik des Sommers 2006 ist jedoch ausgefüllt mit einer nahezu hektischen Betriebsamkeit, teilweise vor, mehr aber noch hinter den Kulissen. Ende September 2006 läuft der Vertrag zwischen ICANN und dem amerikanischen Handelsministerium aus. Und am 30. Oktober 2006 beginnt das erste Internet Governance Forum (IGF) in Athen, das nach vier Jahren erbitterter Diskussion über die Kontrolle des Internet im Rahmen des Weltgipfels zur Informationsgesellschaft (WSIS) gegründet wurde. Beide Prozesse hängen zwar nicht direkt miteinander zusammen, aber klar ist, dass die Fakten, die ICANN und die US-Regierung am 30. September schaffen, die Debatte auf dem IGF bestimmen werden, unabhängig davon, ob das Thema der Internet-Kernressourcen dort überhaupt auf der offiziellen Tagesordnung stehen wird oder nicht.
Was wird aus der US-Kontrolle über die Internet-Ressourcen?
Die US Regierung war zunächst beim WSIS im November 2005 in Tunis mit einem blauen Auge davon gekommen. Nach jahrelanger Debatte um die einseitige Kontrollfunktion der Internet-Ressourcen durch die amerikanische Regierung war es den USA gelungen, ihr Modell eines möglichst regierungsfreien Internet durchzusetzen. ICANN wurde de facto als die weltweite Organisation für die Verwaltung der technischen Kernressourcen des Internet anerkannt. Die Frage, welche Rolle zukünftig Regierungen, einschließlich der US-Regierung, bei Internet Governance spielen sollten, wurde zunächst auf die lange Bank geschoben und soll in einem nur vage definierten Prozess „erweiterter Kooperation“ zwischen involvierten Institutionen in den kommenden Jahren geklärt werden.
Dabei feierten Regierungen wie China, Indien und Brasilien es aber als einen Erfolg, dass sie der US-Regierung in Tunis die Anerkennung ihrer Souveränität über ihre Länderdomains, die sogenannten ccTLDs (wie .de für Deutschland oder .in für Indien) abgetrotzt hatten. Artikel 63 der „Tunis Agenda“ sagt eindeutig, dass sich kein Land in die Angelegenheit der Verwaltung der Länderdomains eines anderen Landes einmischen darf.
Das Ganze hat jedoch den Haken, dass es bis heute die US-Regierung ist, die die Publikation von TLD Root Zone Files, einschließlich der ccTLD Zone Files, im sogenannten „Hidden Server“ des Internet Root autorisiert. Diese „einseitige Kontrolle“ ist Teil der Arrangements zwischen ICANN und dem US-Handelsministerium und der eigentliche Stein des Anstoßes für viele Regierungen. Zwar hat die US-Regierung noch vor dem Tunis-Gipfel erklärt, dass sie die „Bedenken“, die Regierungen bezüglich ihres Ländecodes haben, „anerkennt“, aber eine formelle rechtsverbindliche Erklärung, dass sie sich in ccTLD-Angelegenheiten volle Zurückhaltung auferlegt und sich nicht einmischen wird, gibt es bis heute nicht.
Die Sache wird nun insofern delikat, da am 30. September nicht nur das Memorandum of Understanding (MoU) zwischen dem US-Handelsministerium und ICANN ausläuft, sondern auch der Vertrag mit der „Internet Assigned Numbers Authority“ (IANA), einer ICANN-Unterorganisation. IANA verwaltet die TLD Zone Files und muss vor der Veröffentlichung von neuen oder modifizierten TLD Zone Files im Root das entsprechende Datenpaket an die US-Regierung zur Autorisierung der Publikation weiterleiten.
Seit Monaten wird nun in Washington hinter verschlossenen Türen darüber debattiert, wie man die Quadratur des Kreises hinbekommt, nämlich einerseits die Rolle der US-Regierung unverändert zu lassen, gleichzeitig aber den legitimen Interessen anderer Länder nachzukommen. Im Mai dieses Jahres veröffentlichte die für die Internet Aufsicht zuständige „National Telecommunication and Information Administration“ (NTIA) des Handelsministeriums einen Aufruf, Vorschläge zu dieser Thematik zu unterbreiten. Bis Mitte Juli 2007 gingen über 700 Vorschläge ein, die jüngst auch Gegenstand eines von der NTIA organisierten Hearings in Washington waren.
Das Hearing war zwar formal eine inner-amerikanische Angelegenheit, aber erstaunlich war es schon, dass das amerikanische Handelsministerium keine Anstrengungen unternommen hatte, ausländische Kritiker einzuladen. Die einzigen nicht-amerikanischen Sprecher waren Bill Graham von der kanadischen Regierung und Emily Taylor von NOMINET, der britischen ccTLD Registry für .uk. Beide, gingen dabei durchaus kritisch mit der bisherigen US-Praxis um. Ob dies jedoch in Washington großen Eindruck gemacht hat, bleibt abzuwarten. Der zuständige stellvertretende US-Handelsminister Kneuer jedenfalls machte erneut deutlich, dass die US-Regierung nichts unternehmen wird, was die Stabilität und Sicherheit des Internet gefährden könnte. Diese Formel war von der US-Regierung bereits im Vorfeld des Tunis-Gipfels benutzt worden, um das bestehende Prozedere zu verteidigen.
Insofern wird es eher unwahrscheinlich sein, dass am 30. September die US Regierung ICANN in die volle Unabhängigkeit entlässt. Eher unwahrscheinlich ist auch, dass die US Regierung bei der Aufsicht über den Internet Root Flexibilität zeigen wird. Der Vorschlag, diese Aufsicht im Rahmen des Governmental Advisory Committee (GAC) von ICANN durch die Bildung eines aus mehreren Regierungen bestehenden Gremiums zu internationalisieren, wie sie die ehemalige Mitarbeiterin des Handelsministeriums Becky Burr, die während der Clinton-Jahre in der US Regierung für das Internet zuständig war, gemacht hat, finden bei Burrs Nachfolgern jedenfalls nicht viel Resonanz. Und auch die Idee, diese Aufsicht ganz einzustellen und die Autorisierung der Publikation von Zone Files - ein ohnehin rein technischer Vorgang – ganz ICANN und IANA zu überlassen, hat bislang wenig Befürworter zwischen Capitol Hill und Weißem Haus.
Wie jedoch die internationale Gemeinschaft reagieren wird, wenn die US-Regierung nach dem 30. September einfach so weiter macht, als hätte sich in den letzten fünf Jahren die Internetwelt nicht geändert, bleibt abzuwarten. Immerhin gibt es mittlerweile mehr Internetnutzer in China als in den USA.
ICANN präpariert sich für die Post-MoU-Phase
ICANN jedenfalls, bislang mehr oder minder an der langen Leine Washingtons, versucht schon mal auf eigene Faust voraus zu denken, wie es denn sein könnte, wenn man sich formal von der US-Regierung abnabeln würde. ICANNs Präsident Paul Twomey hat extra ein „Presidential Strategy Commitee“ gebildet, das ihm behilflich sein soll, durch das verminte Fahrwasser der nächsten Monate hindurchzusteuern. Dem Komitee gehören u.a. Schwedens ehemaliger Ministerpräsident Carl Bildt, die beiden WSIS-Präsidenten Adama Samessekou, vormals Bildungsminister von Mali, und Janis Karkelins, Lettlands Genfer UN-Botschafter, an.
Bei einem eigenen Hearing im kalifornischen Marina del Rey Ende Juli 2006 hatte sich ICANN zusätzlich noch externen Sachverstand eingeladen in Gestalt von Erika Mann, Mitglied des Europäischen Parlaments und Präsidentin der European Internet Foundation, sowie des ehemaligen stellvertretenden UN-Generalsekretärs Hans Corell.
Mann und Corell gaben ICANN mit auf dem Weg, dass es ein nicht unerhebliches Vertrauensdefizit gibt und ICANN in erster Linie daran arbeiten sollte, seine Politikprozeduren so zu demokratisieren, dass alle Betroffenen und Beteiligten auch adäquat in Entscheidungsprozesse einbezogen sind. Im Rahmen von WSIS haben die Regierungen anerkannt, dass „Internet Governance“ auf dem Prinzip des „Multistakeholderismus“ basieren soll, d.h. dass sowohl Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft als auch Regierungen sachgerecht und mehr oder minder gleichberechtigt in das Internet-Management eingebunden sind. Formell entspricht ICANN diesem Kriterium, de facto aber bietet es viele Angriffsflächen. wie sich erst jüngst wieder bei den Entscheidungen um die Re-Delegierung der Verwaltung für die gTLDs .com und .net an das US-amerikanische Unternehmen VeriSign zeigte.
Bei dem Hearing in Marina del Rey kamen auch Fragen wie die Inkorporation ICANNs unter kalifornischem Recht und der Firmensitz in den USA zur Sprache. Corell schlug z.B. vor, die Praxis anderer nicht-staatlicher Gremien wie die des Internationalen Roten Kreuzes (IRK) oder des Internationalen Olympische Komitees (IOC) zu untersuchen, um eventuell Anregungen für eine juristische Absicherung gegenüber einer Einmischung durch das Gastland zu erhalten. Erörtert wurde, was es bringen würde, ICANN z.B. in Belgien oder in der Schweiz zu inkorporieren. Zumindest wäre dann eine latente Gefahr, nämlich die in einem Streitfall vor einem amerikanischen Gericht erscheinen zu müssen, wesentlich reduziert.
Bis zum 15. August hat ICANN Vorschläge gesammelt, wie es sich für die Zeit nach dem 30. September positionieren soll. Ein Bericht des Komitees wird dann für die nächste ICANN-Sitzung im Dezember 2006 in Sao Paulo erwartet.
Tagesordnung für IGF entscheidet sich im September
Das „Internet Governance Forum“ (IGF) hat, wie oben bereits angedeutet, mit dem Rechtsstatus von ICANN und der US-Kontrolle über das Internet formell wenig zu tun. Es wäre aber naiv anzunehmen, dass das nach Jahren harter und kontroverser Diskussion gegründete IGF quasi im luftleeren Raum operieren würde. Wenn das IGF-Vorbereitungskomitee am 6. und 7. September 2006 in Genf zusammenkommt, um die Tagesordnung des 1. IGF zu beschließen, wissen die 43 Mitglieder der IGF-Advisory Group (IGF-AG) natürlich noch nicht, wie sich die US-Regierung am 30. September entscheidet. Bislang steht das Thema „Kontrolle der Internet-Ressourcen“ nicht auf der IGF-Themenliste für Athen. Bereits im Mai 2006 hatte sich die IGF-Advisory Group auf das Generalthema „Internet und Entwicklung“ für IGF I geeinigt.
Davon werden sich aber die Kritiker des bestehenden Systems nicht groß beeindrucken und in Athen das Wort verbieten lassen. Und das wird nicht nur die kritischen akademischen Begleiter des Internet Governance Prozesses betreffen. Was auch immer Regierungen in Athen zu diesem Thema sagen werden, die Internetforscher jedenfalls haben bereits angekündigt, am Vorabend des IGF ein eigenständiges akademisches Symposium zu genau dieser kontroversen Frage zu veranstalten.
Einige akademische Mitglieder, die der „UN Working Group on Internet Governance“ (WGIG) angehörten – der WGIG-Bericht war die Grundlage für die Entscheidungen des WSIS-Gipfels in Tunis – hatten im Juni 2006 im sächsischen Kurort Rathen ein „Global Internet Governance Academic Network“ (GIGANet) gegründet. Dem GIGANet gehören mehr als 50 Akademiker aus über 30 Ländern an wobei. das dahinter stehende institutionelle Spektrum von der Harvard und der Oxford Universität bis zu den Universitäten von Sao Paulo und Nairobi reicht.
Das Sommerloch der Internetpolitik ist jedenfalls im Jahr 2006 gut gefüllt. Man tut gut daran, sich auf einen stürmischen Herbst einzustellen.