Was wollten die Behörden mit Amri?

Seite 2: War Amri eine V-Person?

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War Amri eine V-Person? Der Abgeordnete Niklas Schrader (Linke) wollte das vom früheren NRW-Staatsschützer Becker genau wissen: "Hat man überlegt, den Status als Nachrichtenmittler zu erweitern und Amri als V-Person anzuwerben?" Antwort Becker: "Nach meiner Erkenntnis nicht. Wir hatten zu keiner Zeit den Gedanken, ihn als VP anzuwerben, schon weil er Gefährder war. Das wäre ein Stück aus dem Tollhaus gewesen." Becker schied aber Ende März 2016 aus dem LKA NRW aus und wechselte zur Kripo nach Köln.

Auch der Verfassungsschutz von NRW befasste sich offensichtlich mit Amri. Bei gemeinsamen Besprechungen mit dem Landesamt sei der Gefährder Thema gewesen, so Becker auf Fragen des Ausschusses. Allerdings sei das, was das LfV über Amri wusste, beim Staatsschutz bereits bekannt gewesen.

Unklar ist danach aber, woher der Verfassungsschutz seine eigenen Informationen hatte. Unter anderem die, dass sich Amris Handy Ende Oktober 2016 in Berlin und Brandenburg eingeloggt hatte. Ob noch andere Verfassungsschutzämter mit Amri befasst waren, konnte Becker nicht sagen.

Da, wo die eingeschränkte Aussagegenehmigung nicht ausreichte, schützte der frühere Staatsschutz-Chef Nichtwissen vor. Wie lange beispielsweise die Telefonüberwachung Amris ging und was sie inhaltlich erbrachte, dazu will Becker "keine eigenen Erkenntnisse" haben.

Die öffentliche Erkenntnislage beginnt sich nun zu ändern

Zurück zum 18. Februar 2016: Obwohl der reisende Gefährder nun von der Polizei in Berlin als Beobachtungsobjekt übernommen wurde, lief parallel auch die Telefonüberwachung aus dem Rheinland weiter, wie der damalige Chef des NRW-Staatsschutzes auf Nachfrage des Ausschusses einräumte.

Amri begab sich an jenem Tag direkt zur Fussilet-Moschee, wo ihm ein neues Handy zur Verfügung gestellt wurde. Und das, so Recherchen des Rundfunks Berlin Brandenburg (RBB), wurde vom LKA in Nordrhein-Westfalen überwacht. Wie das Mobiltelefon zu der Moschee in Berlin kam, ist bisher nicht bekannt. Die Abgeordneten fragten nicht nach.

Welche Rolle spielte der Verfassungsschutz im Fall Amri? Auffällig war bisher, dass die Nachrichtendienste eine "bemerkenswert bedeutungslose Rolle" gespielt haben sollen, so der Sonderermittler des Berliner Senates, Bruno Jost, bei seinem Auftritt vor dem Ausschuss im November 2017. Alle Dienste, die er angefragt habe, hätten erklärt, keine Erkenntnisse zu Anis Amri gehabt zu haben. Die öffentliche Erkenntnislage beginnt sich nun zu ändern.

Wie das LfV (Landesamt für Verfassungsschutz) in NRW muss auch das in Berlin mit dem Fall zu tun gehabt haben. Staatsschutz-Chefin Porzucek erklärte, darauf angesprochen, zunächst zwar, das LfV Berlin sei zu Amri "offenbar nicht aktiv" gewesen. In der weiteren Befragung gab sie aber Antworten, die das Gegenteil nahelegen.

Wer war aktiv? Erschreckende Unkenntnis ....

Gegenüber der Fussilet-Moschee in Berlin-Moabit, die Amri am 18. Februar 2016 aufgesucht hatte, befindet sich eine Polizeiwache. Dort installierte die Polizei am 19. Februar eine Kamera, um Personen, die in der Moschee ein und aus gingen, zu registrieren. Tatsächlich soll es zwei Überwachungskameras von zwei verschiedenen Behörden gegeben haben.

Die zweite gehörte dem Verfassungsschutz, wie Jutta Porzucek nach wiederholter Nachfrage bestätigte. Sie hing nicht an der Polizeiwache, sondern an anderer Stelle. Wo, sagte die Zeugin nicht. Wissen darüber, wie lange die Kameras in Funktion waren und welche Personen Ziel der Maßnahme waren, will die Staatsschutz-Chefin nicht haben.

Amri hatte am 19. Dezember 2016 eine Stunde vor dem Anschlag die Moschee noch einmal besucht. Was er dort wollte, ist unklar. Die Moschee wurde nach dem Anschlag geschlossen, der Moscheeverein verboten.

Jutta Porzucek leitet den Staatsschutz in Berlin seit Juni 2015. Im Juli des Jahres kam Amri nach Deutschland und auch nach Berlin. Die Abteilungsleiterin machte gegenüber den Abgeordneten eine Arbeitsüberlastung ihrer Abteilung geltend und sprach von einer "sehr angespannten" Personalsituation. 500 Mitarbeiter zählt der Staatsschutz.

Hier war Sonderermittler Jost auf jene Aktenmanipulationen und Vertuschungen gestoßen, die inzwischen Gegenstand von Strafverfahren sind. Sie wurden bei der Befragung im Ausschuss ausgeklammert.

Die Führungsbeamtin offenbarte aber auch eine erschreckende Unkenntnis. In kaum eine Entscheidung war sie eingebunden. Die Frage, ob das nicht ungewöhnlich sei bei einer Person, der eine derartige Relevanz zugemessen wurde, wie Amri, beantwortete sie knapp mit: "Ja, das ist so." Auch an den Namen Anis Amri habe sie für die Zeit vor dem Anschlag keine Erinnerung.

Fast alles, was sie heute zu dem Fall weiß, will sie im Nachhinein erfahren haben. "Retrograd" wisse sie, sagte sie so oft, dass eine Zuhörerin, die Tochter eines Anschlagsopfers, begann eine Strichliste dieser Formel zu führen. Porzuceks Vernehmung dauerte sechs Stunden. Allein der Ausschussvorsitzende Dregger befragte sie zweieinhalb Stunden lang am Stück.

Die Zusammenarbeit der Behörden als Schlüssel?

Auch im Bundestag wird ein Untersuchungsausschuss zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz in Berlin kommen, der zwölf Menschen das Leben kostete. Die Fraktionen sind sich darüber im Grundsatz einig. Wie im Fall NSU geht es wieder um Behördenhandeln. Eingesetzt wurde der Ausschuss noch nicht, weil unter anderem sein Untersuchungszeitraum strittig ist.

Union und SPD wollen nur bis zu Amris Tod vier Tage nach dem Anschlag nachforschen. Das finden andere Fraktionen unzureichend. Es müsse auch die Zeit danach untersucht werden, schließlich geschahen da die aufgedeckten Vertuschungsaktionen unter anderem im LKA Berlin.

Etwa ein Dutzend Mal war der Fall Amri im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum behandelt worden, wo sich unter anderem Landeskriminalämter, BKA, Verfassungsschutzämter und Bundesanwaltschaft täglich austauschen. Gerade dafür war das GTAZ geschaffen worden.

Das Hilfsargument, die Behörden hätten im Fall Amri nicht ausreichend zusammengearbeitet, kann angesichts dessen nicht gelten. Sie haben im Gegenteil permanent und eng kooperiert. Kann sein, dass genau darin der Schlüssel für den Fall Amri liegt. Es wäre eine der schreiendsten Parallelen zum NSU-Skandal.