Waschmaschinen und Waffen: Ist Russlands Armee auf Haushaltsgeräte angewiesen?
Greift Russlands Militär auf Halbleiter aus Haushaltsgeräten zurück? Oberst Markus Reisner zur skurrilen Debatte. Warum sie ein neues Licht auf das russische Vorgehen wirft.
Markus Reisner ist ein von Medien viel gefragter Militärexperte. Der Oberst des Generalstabsdienstes des österreichischen Bundesheers hat praktische Erfahrung. Er war fast ein Jahrzehnt bei österreichischen Spezialkräften (Jagdkommando) tätig. Zugleich arbeitet er als Militärhistoriker und ist Vorstandsmitglied des Clausewitz Netzwerks für Strategische Studien.
Telepolis-Autor Lars Lange fragte den Experten nach seiner derzeitigen Einschätzung der Nachrichten darüber, wonach Russlands Militär auf Chips aus Haushaltsgeräten angewiesen zu sein scheint.
Zuletzt wurde der stellvertretende britische UN-Botschafter James Kariuki von der Frankfurter Rundschau in einem Bericht – überschrieben: "Putins Truppen plündern "Kühlschränke für Waffen-Ersatzteile" – mit einer entsprechenden Äußerung zitiert:
"Jetzt schlachtet die russische Rüstungsindustrie Kühlschränke für Ersatzteile aus."
Was plausibel ist und was Sorgen bereiten sollte
Der Grünen-Politiker Anton Hofreiter, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock und jetzt der stellvertretende britische UN-Botschafter James Kariuki: Sie alle glauben, dass Russland Kühlschränke oder Waschmaschinen ausplündert und die Chips in ihre Rüstungsprodukte einbauen würden.
Wie wahrscheinlich ist das?
Markus Reisner: Das ist absolut plausibel und denkbar. Über 70 Prozent aller weltweit erzeigten Standardhalbleiter werden von der Taiwan Semiconductor Manufacturing Company (TSMC) produziert.
Bei den Hochleistungshalbleitern liegt die Rate sogar bei 90 Prozent.
Diese Halbleiter werden in ausnahmslos allen uns bekannten elektronischen Geräten verwendet. Von unserem Smartphone bis zu einem Hochleistungskampfflugzeug.
Sie sind dual verwendbar, d. h. man kann mit dem richtigen Werkzeug einen Halbleiter aus einem Staubsaugerroboter ausbauen und in die Feuerleitanlange eines Panzers einbauen. Russische Waffensysteme sind im Gegensatz zu westlichen Systemen in den einzelnen Baugruppen viel einfacher und billiger hergestellt.
Es gibt ein bekanntes ukrainisches Video, in welchem eine erbeutete russische Orlan-10 Drohne auseinandergenommen wird. Sie besteht zum Teil aus Bauteilen aus der Modellbauflugszene.
Wenn aber russische Waffen so einfach gebaut sind, dass sie sogar im Feld durch Bauteile aus der unmittelbaren Umgebung instand gesetzt werden können, so sollte uns das Sorgen bereiten.
"Ein klassisches Beispiel der Informationskriegsführung"
Quelle der Waschmaschinen-Theorie scheint die US-Handelsministerin Gina Ramonda zu sein, also eine politische Quelle.
Was wird mit solchen Narrativen politisch bezweckt, die die technische Leistungsfähigkeit der russischen Armee wohl in Abrede stellen sollen?
Markus Reisner: Hier kommt ein klassisches Beispiel der Informationskriegsführung zur Anwendung. Man versucht das Gegenüber herunterzumachen und die eigenen Maßnahmen bzw. Überlegenheit zu überhöhen. Das wird in eine gute Story verpackt und mit Bildern untermalt.
Eine derart konstruierte "Informationsbombe" setzt man dann gezielt im Informationsraum frei. Findet sie bei den Medien Anklang und Verbreitung, so hat sie ihr Ziel erreicht.
Die Botschaft im vorliegenden Fall lautet: "Macht euch keine Sorgen, die russische Rüstungswirtschaft ist am Ende und kann kaum noch die eigenen Streitkräfte beliefern!"
Nachdem es den russischen Streitkräften laut ukrainischen (!) Offiziellen im letzten Jahr gelungen ist, ihr Rüstungsmaterial in der Ukraine trotz laufender Verluste um 30 bis 50 Prozent zu erhöhen, kann diese Annahme nicht korrekt sein.
Was wären andere Beschaffungsmöglichkeiten?
Der regierungsnahe deutsche Faktenfinder Correktiv zitiert sogar einen RWTH-Professor, der die Nutzung von Waschmaschinen-Chips in Rüstungsgütern für möglich hält.
Aber wenn das so einfache und alte Chips sind, wie bei Correktiv angegeben, dann gibt es die millionenfach, sehr günstig und einfach auf dem Weltmarkt zu kaufen. Würde das russische Beschaffungswesen nicht einfach nur die Chips kaufen, ohne Kühlschränke oder Waschmaschinen?
Markus Reisner: Genau dies ist, im Gegensatz zu der mittels "Informationsbombe" präsentierten Geschichte, der Fall. Man nimmt an, dass bis zu 80 Prozent des russischen Halbleiterbedarfs über den Globalen Süden, also über Länder wie China, Indien oder die Türkei zulaufen.
Getarnte Subfirmen und Zwischenhändler sorgen für einen reibungslosen Fluss nach Russland. Erzeugt wurden die Halbleiter neben Taiwan unter anderem in den USA, von Firmen wie Intel, Advanced Micro Devices oder Texas Instruments.
Wie beschafft sich Russland Halbleiter auf dem Weltmarkt, wie sehen dort die Lieferketten aus?
Markus Reisner: Russland war in der Vergangenheit mit Software und Hightech-Dienstleistungen immer wieder punktuell erfolgreich. Bei der Entwicklung und Herstellung von Halbleitern blieb man jedoch weit hinter den Erwartungen zurück.
Aufgrund es Krieges in der Ukraine möchte man nun mit Hochdruck eigene Ingenieure auszubilden und Halbleiter im eigenen Land entwickeln und produzieren. Dazu ist es die Absicht, wie der Iran, ein reverse engineering-Programm einzuführen.
Ziel ist, ausländische Produkte zu kopieren und deren Herstellung bis Ende 2024 in Russland zu beginnen. Was Russland nicht im eigenen Land herstellen kann, soll aus China bezogen werden.
Strategische Vorhaben
Wie ist es um die russische Produktion von Halbleiter-Produkten eigentlich bestellt? Wie groß ist diese und ist sie für die russische Rüstungsindustrie ausreichend groß?
Markus Reisner: Die russische strategische Absicht sieht umfangreiche, lange anhaltende Investitionen in den nächsten Jahren vor. Stand der Technik war seit 2008 die Herstellung von Halbleitern mit einer Strukturgröße von 40 Nanometern (nm).
Im Jahr 2010 wurde von den Topunternehmen bereits 28 nm erreicht. Russland möchte bis 2027 eine lokale Halbleiterfertigung von 28 nm und bis 2030 von 14 nm erreichen.
Im Vergleich dazu plant die bereits erwähnte TSMC beispielsweise bis 2026 auf zwei nm zu kommen. 28 nm Halbleiter reichen aber für den Bedarf der derzeit verwendeten russischen Rüstungsgüter, wie z.B. Marschflugkörper, ballistische Raketen oder Kampfflugzeuge, völlig aus.