Russischer Drohnenkrieg: "Kiew muss neuerlich Forderung nach Abwehrsystemen erhöhen"
Ukraine-Krieg: Die strategische Luftkriegsführung des russischen Militärs – Was der Einsatz der modernisierten Shahed-238-Drohne zur Folge hat. Interview mit Oberst Reisner
Markus Reisner ist ein von Medien viel gefragter Militärexperte. Der Oberst des Generalstabsdienstes des österreichischen Bundesheers hat praktische Erfahrung. Er war fast ein Jahrzehnt bei österreichischen Spezialkräften (Jagdkommando) tätig. Zugleich arbeitet er als Militärhistoriker und ist Vorstandsmitglied des Clausewitz Netzwerks für Strategische Studien.
Telepolis-Autor Lars Lange fragte den Experten nach seiner derzeitigen Einschätzung des Einsatzes der Shahed-238-Drohne durch Russland und die Herausforderungen, die sich damit der ukrainischen Flugabwehr stellen, sowie der Möglichkeiten, dass die Ukraine eine eigene Flugabwehr-Fertigung aufbaut.
Shahed 238: "Zwei wesentliche neue Herausforderungen"
Was könnte die neue Shahed 238 für die ukrainische Flugabwehr bedeuten?
Markus Reisner: Das Erscheinen der Shahid-238 als Mittel der russischen operativen/strategischen Luftkriegsführung stellt die Ukraine vor zwei wesentliche neue Herausforderungen. Das neue Modell verfügt über ein leistungsstarkes Jet-Triebwerk.
Weniger Reaktionszeit
Dies macht es möglich wesentlich schneller zum Angriffsziel fliegen zu können als mit der alten Shahid-131/136-Version. Damit bleibt der ukrainischen Fliegerabwehr weniger Früherkennungs- und Reaktionszeit.
Zudem wird es schwieriger mit Fliegerabwehrkanonen (z.B. ZSU-23-2/4 oder Gepard) die Drohne zu bekämpfen. Vor allem in Anbetracht es geringen Radarquerschnitts.
Erhöhung der Treffergenauigkeit
Hinzu kommen bei der Shahid-238 eine Erhöhung der Treffergenauigkeit und eine vermutete höhere Resistenz gegen elektronische Störmaßnahmen. So wurde das Inert- und GLONASS-Navigation der Shahid-131/136 bei der Shahid-238 um ein bordeigenes Radarsystem, sowie eine elektrooptische Zieleinrichtung ergänzt.
Somit wäre nicht nur der Einsatz gegen stationäre, sondern auch bewegte Ziele möglich. Trümmer der ersten, bereits in der Ukraine eingesetzten, russischen Shahid-238 lassen diese Bewertung bzw. Vermutung zu.
Iranische Entwickler - trotz der Sanktionen
Auch die Shahed-238 kann ihre iranischen Entwickler nicht verleugnen. Das erste serienreife Modell wurde am 19. November 2023 während einer von den Islamischen Revolutionsgarden (IRGC) organisierten Ausstellung von Luft- und Raumfahrtfähigkeiten in der Ashura Aerospace Science and Technology University in Teheran vorgestellt.
Auch hier stellt sich die Frage: Wie ist es möglich, dass ein streng sanktioniertes Land wie der Iran, derartige Hochtechnologie erfolgreich entwickeln, produzieren und exportieren kann.
Drei Versionen
Es wurden konkret drei Versionen der Shahed-238 vorgestellt. Darunter eine Systemkonfiguration, die in der Lage ist, gegnerische Radarsysteme aufzuspüren und zu attackieren. Derartige Missionen werden in Nato-Luftstreitkräften Suppression of Enemy Air Defence / Destruction of Enemy Air Defenses (SEAD/DEAD) genannt und dienen dazu, die feindliche Luftabwehr vor einem geplanten massiven Marschflugkörper- oder Bombereinsatz auszuschalten.
Die zweite Version inkludiert die bereits angesprochene elektrooptische, möglicherweise satellitenunterstützte "Fern"-Steuerung, die dritte ist die sogenannte Basisversion zum Angriff auf ein vorprogrammierte Zielkoordinate. Exakte technische Details sind im Moment noch unklar.
Aufbau einer eigenen Flugabwehr-Fertigung
Die Ukraine hat keine Flugabwehr Fertigungskapazitäten. Doch von den Verbündeten wird immer weniger geliefert. Wie schätzen Sie die Möglichkeiten ein, dass die Ukraine eine eigene Flugabwehr-Fertigung aufbaut?
Markus Reisner: Dies hängt vor allem davon ab, ob es die Ukraine schafft, Kernbereiche ihrer militärisch-industriellen Fertigung zu erhalten und gegen gezielte russische Luftangriffe zu schützen.
Hinzu kommt eine bestehende ununterbrochene Energieversorgung, die Notwendigkeit des Zuflusses von elektronischen Hochwertbauteilen und eine notwendige dezentralisierte Baugruppenfertigung.
Erst am Ende und gut getarnt darf eine Entmontage von Flugabwehrsystem und Munition erfolgen. Dann könnte eine Fertigung in der Westukraine, also in der Tiefe des Landes gelingen.
Erhöhter Druck auf die Ukraine
Wir sehen jetzt den Zufluss von nordkoreanischen Raketen in den Kampfraum in der Ukraine. Es gibt anhaltende Gerüchte, dass auch der Iran bald auf der Lieferantenliste Russlands für Raketen stehen wird. Was heißt das für die Ukraine, handelt es sich doch bei beiden um sehr starke Rüstungsindustrien?
Markus Reisner: Die Lieferung nordkoreanischer Raketen und signifikanter Mengen an Artilleriemunition erhöht den Druck auf die Ukraine im entscheidenden Moment. Eine Analyse der Aussagen ukrainischer Soldaten in sozialen Netzwerken zeigen bereits wieder ein Verhältnis 1:5 bei Artilleriemunitionseinsatz auf taktischer Ebene zugunsten der russischen Truppen.
Die eintreffenden ballistischen Raketen geben hingegen der russischen Seite vor allem die Möglichkeit zu gezielten Angriffen auf operativer Ebene. So werden nun regionale Munitions- und Logistikknotenpunkte angegriffen.
Inzwischen dienen iranische Drohnen und Marschflugkörper der Fortsetzung der strategischen Luftkampagne. Die Ukraine muss nun neuerlich ihre Forderung nach Abwehrsystemen erhöhen. Siehe dazu die kürzlichen Aussagen von Präsident Selenskyj.