"Die Lehren des Ukraine-Kriegs sind in westlichen Armeen noch nicht angekommen"

Die Offensive der russischen Armee, was die Ukraine an westlichen Waffen benötigt, und die Herausforderungen für europäische Streitkräfte. Interview mit Oberst Reisner.

Russland gruppiert seine Streitkräfte neu. Was kann das bedeuten?

Markus Reisner: Mit Blick auf das Nachlassen der westlichen Unterstützung für die Ukraine wittert Russland nun seine Chance. Entlang der gesamten Frontlinie sind eindeutige verstärkte russische Offensivhandlungen zu erkennen. Hinzu kommen weitere Truppenverlegungen.

So sollen alleine im Raum Awdijiwka bereits ca. 40.000 russische Soldaten im Einsatz sein. Der russische Ansatz verfolgt zwei Zielsetzungen.

Einerseits versucht man die Ukrainer zu zwingen, ihre taktischen und operativen Reserven einzusetzen und andererseits möchte man, wo immer möglich, lokale Durchbrüche (…) seien sie auch noch so klein (…) erzielen. Man arbeitet sich stoisch und ohne Rücksicht auf Verluste Schritt für Schritt vor.

Hat Russland weiteres Offensivpotenzial über die jetzigen Vorstöße hinaus?

Markus Reisner: Die vor Kurzem getroffene Ankündigung, weitere 170.000 Soldaten in die Streitkräfte zu übernehmen, zeigt, dass Russland bereit ist, einen langen Krieg zu führen. Dies bedeutet mittelfristig auch weitere Offensivhandlungen.



In russischen sozialen Netzwerken wird immer wieder damit spekuliert, dass es neuerlich Vorstöße aus russischem Territorium heraus in Richtung Charkiw, Sumy oder Tschernihiw geben könnte. Dies würde bedeuten, dass sich in einem derartigen Fall die 1.200 km lange Frontlinie für die Ukraine wesentlich verlängern würde. Es würde eine noch größere Zersplitterung der zunehmend ermatteten Kräfte bedeuten.

Waffenlieferungen: Entwicklungen zuungunsten der Ukraine

Westliche Waffenlieferungen bleiben aus. Steht die Ukraine jetzt vor dem militärischen Kollaps?

Markus Reisner: Auf strategischer Ebene benötigt die Ukraine im Moment vor allem Fliegerabwehrsysteme, um die Tiefe ihres Raumes gegen die erwartete zweite russische strategische Luftkampagne schützen zu können.

Auf operativer Ebene wäre es notwendig durch verfügbare weitreichende Boden-Boden oder Luft-Boden-Waffensysteme (z.B. ATACMS oder GLSDB) die russische Kommandostruktur und Logistik zu treffen.

Auf taktischer Ebene haben derzeit Anti-Drohnen-(C-UAS)-Systeme die höchste Bedeutung. Während nun vereinzelt weitere Fliegerabwehrsysteme (u.a. je ein System Patriot und IRIS-T) eintreffen, verzögert sich die Lieferung der GLSDB bis ins nächste Jahr.

ATACMS scheinen überhaupt nur einmalig geliefert worden zu sein. Verfügbare C-UAS-Systeme kommen ebenfalls nur spärlich ins Land. Diese Entwicklungen sind eindeutig zuungunsten der Ukraine. Selenskyj hat daher bereits angekündigt, in die Defensive gehen zu müssen.

"Den Gegner zu unterschätzen, ist der größte Fehler im Kampf"

Russland verfügt derzeit über die größte Anzahl an Soldaten mit Erfahrung in hochintensiven Gefechten. Wie ist das aus militärischer Sicht zu bewerten im Vergleich zu Armeen mit rein theoretischer Ausbildung oder im Vergleich zu Armeen, die bisher nur gegen stark unterlegene Gegner gekämpft haben?

Markus Reisner: Das ist für die Streitkräfte Europas die auf lange Sicht größte Herausforderung. Russland hat hohe Verluste, schafft es aber immer mehr Soldaten Kampferfahrung sammeln zu lassen. Eine Analyse ukrainischer Videos von Angriffen auf russische Einheiten, zeigt eindeutig, dass diese in der Lage sind zu lernen und sich anzupassen. Jede Lehre wird dabei mühsam durch Blut erkauft.

Dies gilt auch für die ukrainischen Soldaten. Umso besorgniserregender ist es dann zu hören, dass sich ukrainische Soldaten über die nicht gefechtsnahe Ausbildung von Nato-Einheiten beklagen.

Dies zeigt, die Lehren des Ukraine-Kriegs sind in den westlichen Armeen noch nicht angekommen. Hinzu kommt, das nach wie vor vorherrschende Narrativ, dass russische Soldaten völlig dilettantisch kämpfen würden.

Den Gegner zu unterschätzen, ist der größte Fehler im Kampf. Es könnte hier eine böse Überraschung drohen.

Beschädigte und zerstörte Leopard-Kampfpanzer

Die Erfindung des Maschinengewehres war ein Wendepunkt in der Kriegsführung und machte beispielsweise die Kavallerie obsolet. Bedeutet die Erfindung von FPV-Drohnen in unserer Zeit das Ende des Kampfpanzers?

Markus Reisner: Der Kampfpanzer ist noch immer das einzige Mittel, dass es schafft kampf- und stoßkräftig, Gelände in Besitz zu nehmen. Er ist hoch beweglich, verfügt über eine starke Panzerung und hat hohe Feuerkraft. Er kann seine Vorteile aber nur um Verbund zur Entfaltung bringen.

So wie er die Infanterie benötigt, um ihn bei Bedarf z.B. im urbanen Gelände zu beschützen, benötigt er in Zukunft mitfahrende Fliegerabwehr kurzer Reichweite (= SHORAD bzw. VSHORAD). Ohne sie kann er rasch Opfer der im Moment das Gefechtsfeld beherrschenden FPV bzw. Kamikaze-Drohnen werden.

Die dutzenden Videos von FPV-Angriffen auf Leopard-Kampfpanzer und Bradley-Kampfschützenpanzer zeigen dies nur zu gut! Die Plattform Oryx nennt im Moment 27 beschädigte oder zerstörte Leopard-Kampfpanzer sowie 70 beschädigte oder zerstörte Bradley-, CV90- und Marder-Kampfschützenpanzer.