Websperren: Internetpolitik von Gestern
Die Entrüstung über "das Böse im Internet" erhellt die Abgehobenheit eines Teils der deutschen politischen Elite von der Wirklichkeit im Informationszeitalter
Das Gute an der zuweilen skurrilen Debatte um Internetsperren in Deutschland ist, dass sich damit ein zu lange brachliegendes Thema langsam den Weg in eine breitere Öffentlichkeit bahnt. Das im letzten Jahr ausgebrochene Entsetzen über die "bösen Inhalte" im Internet ist insofern entlarvend, weil es dokumentiert, dass deutsche Politik und deutsche Öffentlichkeit eine bereits seit mehr als einem Jahrzehnt laufende internationale Debatte weitgehend verschlafen haben.
Es ist nicht das Internet, das "das Böse" in die Gesellschaft bringt, sondern es ist "das Böse in der Gesellschaft", das sich nun auch den Weg ins Internet bahnt. Als das Internet vor 20 Jahren gerade mal von einer Millionen "Netizens" bevölkert war, gab es eine "Netiquette", die von allen befolgt wurde. Als freier und verantwortungsbewusster "User" wusste man sehr wohl, dass es auch im Internet allgemeine Benimmregeln gibt. Jetzt aber haben wir fast 1.7 Milliarden Internetnutzer. Kann es da verblüffen, dass auch Kriminelle, Hassprediger, Kinderschänder und Vandalen den Cyberspace nutzen?
Das Übel liegt also mehr in der Gesellschaft als im Internet. Und Politik wäre gut beraten, wenn sie sich primär um Verbrecher und Verbrechen kümmert und nicht um die Reglementierung von Internetnutzern. Ein wesentliches Problem liegt doch darin, dass Kriminelle sich die technischen Möglichkeiten des globalen Internet - jeder kann mit jedem zu jeder Zeit an jedem Ort kommunizieren - schon längst zu eigen gemacht haben, während Politik und Strafverfolgung in den nationalen Begrenzungen von gestern stecken geblieben sind.
Mit der Territorialhoheit des Souveränitätsprinzips zu operieren ist doch viel zu kurz gedacht, wenn der Cyberspace Grenzen wie nie zuvor obsolet gemacht hat. Im eigenen Land die nationale Rechtsordnung strikt anzuwenden, ist ja vernünftig, es ist aber schon lange nicht mehr hinreichend. Wo ist die internationale Initiative der Bundesfamilienministerin, um im globalen Rahmen gegen das vorzugehen, was sie zu Recht als schändlich und menschenverachtend ansieht? Warum geht sie nicht gegen jene Regierungen vor, die Banken beherbergen, die Konten führen, auf denen die Gelder landen, die für Online-Kinderpornographie bezahlt werden? Es hat wenig Sinn den Esel zu schlagen, wenn man den Reiter meint. Dem Finanzminister Steinbrück ist es ja auch gelungen, von der Schweiz die Herausgabe von Namen und Adressen krimineller Steuerhinterzieher zu erwirken.
Die weiter anschwellende Debatte "Von der Leyen vs. Internet Community" macht auch deutlich wie viele Missverständnisse und Kommunikationslücken es im politischen Dialog in Deutschland gibt, wenn es um die Zukunft der Informationsgesellschaft geht.
Da ist die von Frau von der Leyen aus der Luft gegriffene Behauptung, die Internet-Community würde das Internet als rechtsfreien Raum begreifen. Kein ernst zu nehmender Vertreter der Internet-Community hat das je behauptet. Diese Debatte hat bereits in den 90er Jahren stattgefunden. Was offline rechtswidrig ist, wird online nicht legal. Wer würde das in Frage stellen? Gelddiebstahl im Cyberspace bleibt eine Straftat. Internetfreiheit ist nicht die Quelle für Cyberkriminalität und die Einschränkung von Freiheitsrechten für alle nicht das Mittel, um wenige Verbrecher zur Strecke zu bringen. Das Problem von Rechtsverletzungen im Cyberspace ist ja nicht das Fehlen von Rechtsinstrumenten, sondern das niedrige Niveau der internationalen Zusammenarbeit bei der Strafverfolgung und das noch niedrigere Niveau der Harmonisierung von nationalen Rechtssystemen bei Schlüsseldelikten.
Neue Methoden und Instrumente müssen entwickelt werden, um universellen Wertvorstellungen, Menschenwürde und Recht Geltung zu verschaffen
Will man die globalen Probleme der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts politisch und juristisch in den Griff bekommen, kommt man nicht an der Tatsache vorbei, dass nationale Alleingänge im Cyberspace nicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein sind, sondern bei unbedarften Internetnutzern - und das ist wohl die Mehrheit - die gefährliche Illusion befördern, die "Regierung" könne einen schon schützen vor den virtuellen Bösartigkeiten. In Wirtschaft und Technologie gab es in den vergangenen Jahrzehnten eine Innovation nach der anderen, der politische Alltagsbetrieb aber operiert noch mit dem Handwerkszeug aus der "guten alten Zeit". Dabei geht es ja nicht darum, dass die im Grundgesetz verankerten Werte veraltet wären. Mitnichten. Veraltet sind die Methoden, mit denen diesen Werten Geltung verschafft wird, mit denen Politik entwickelt und Entscheidungen getroffen und durchgesetzt werden.
Die Informationsgesellschaft ist globaler, komplexer und viel differenzierter als es die Industriegesellschaft war und ist. Wird diese Komplexität ignoriert und verweigert man sich einer Modernisierung der Politik, richten gut gemeinte insulare Lösungen mehr Schaden an als Nutzen. Einfach sperren - d.h. "Augen zu", wenn Böses auf dem Laptop erscheint - ist so innovativ wie die Einführung des "Index Librorum Prohibitorum" durch die katholische Kirche nach Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks.
Wie soll man zum Beispiel mit dem im deutschen Strafrecht verankerten Verbot von Nazipropaganda umgehen? Die Publikation von Adolf Hitlers "Mein Kampf" ist in Deutschland eine Straftat, in den USA ist sie durch das "1st Amendement" verfasssungsrechtlich als "free speech" geschützt. Beim Online-Buchhändler "Barnes&Nobles" kann man Hitler in englischer Übersetzung für 17.00 $ kaufen. Was also sollten nach von der Leyens Ansicht die deutschen Behörden tun? Im Grunde müsste jedes aus den USA kommende Buchpaket geöffnet werden, um herauszufinden, ob darin Hitlers "Mein Kampf" ist. Das Buch würde dann konfisziert und der Empfänger eine Mitteilung über die Rechtswidrigkeit seiner Bestellung bekommen. Oder man müsste jede von einem deutschen Server ausgehende Bestellung bei "Barnes&Nobles" überprüfen, ob Hitlers "Mein Kampf" bestellt wird. Und was macht das BKA, wenn ein Deutscher in Paris (oder von den Fidschi-Inseln) das Buch für seinen Freund am Starnberger See bestellt? Und was, wenn das Buch als "attached PDF-File" an einer E-Mail dranhängt?
Das Beispiel zeigt die Grenzen unserer traditionellen Instrumente. Es sagt aber nicht, dass man nichts gegen die Verbreitung von Nazipropaganda tun könne oder solle. Es sagt aber, dass man herausgefordert ist, neue Methoden und Instrumente zu entwickeln, um universellen Wertvorstellungen, Menschenwürde und Recht Geltung zu verschaffen.
Die Schwachstelle ist doch, dass Regierungen es versäumt haben, innovative Politikmodelle für die globale Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts zu entwickeln. Der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan hatte das schon 2004 eingefordert:
Das Thema ist vielschichtig und komplex. Selbst die Definition von "Internet Governance" ist strittig. Aber die Welt hat ein gemeinsames Interesse daran, die Sicherheit dieses neuen Mediums zu gewährleisten. Es ist wichtig, dass wir partizipatorische Governance Modelle entwickeln. Das Medium muss zugänglich für alle sein und auf die Bedürfnisse der Menschen reagieren". Und er fügte hinzu, dass wir für "die Verwaltung, die Förderung und dem Schutz des Internet nicht weniger Kreativität benötigen als diejenigen hatten, die das Internet entwickelten. Sicher, es gibt eine Notwendigkeit für Internet Governance, aber das heisst nicht, dass die dafür notwendige Politik in traditioneller Weise gemacht werden muss für etwas, dass so verschieden ist von allem, was wir in der Vergangenheit hatten.
Kofi Annan
Mit Internet Governance hat sich die deutsche Regierung nicht beschäftigt
Die deutsche Bundesregierung hat sich, wie viele andere Regierungen, nie ernsthaft mit dieser Aufforderung nach mehr Kreativität auseinandergesetzt. Die Bundesregierung hat sich auch eher zurückgehalten bei den globalen Debatten zu Internet Governance im Rahmen des UN-Weltgipfels zur Informationsgesellschaft (WSIS). Zu den beiden WSIS-Gipfeln in Genf 2003 und Tunis 2005 kam weder der Kanzler noch ein Minister. Die Bundesregierung ließ sich von einem Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium vertreten. Auch das 2006 gegründete UN Internet Governance Forum (IGF) - in Anlehnung an das Weltwirtschaftsforum das "Davos des Internet" genannt - steht nicht auf der Prioritätenliste des politischen Berlins. Nicht ein einziges Mitglied des Deutschen Bundestages ist bislang bei einem der jährlichen IGFs aufgekreuzt. Man kann darüber spekulieren, ob die peinliche Ignoranz ihre Quelle mehr in Unwissenheit oder Überheblichkeit hat, Fakt ist, dass die Erkenntnisse des zehnjährigen globalen Diskussionsprozesses zu "Internet Governance" in die Bundespolitik bislang nicht eingeflossen sind.
Eine der innovativen Säulen des neu entstehenden Internet Governance Modells ist das Prinzip des "Multistakeholderismus", d.h. die gleichberechtigte Mitwirkung von Regierung, Zivilgesellschaft, Privatwirtschaft und der technischen Community bei der Entwicklung von Politiken für das Internet. Das Internet hat keine Zentralregierung. Kein "Stakeholder" - weder die Regierung noch die nicht-gouvermentalen Gruppen - und keine Organisation - weder ICANN noch die ITU - ist allein in der Lage, das Internet zu "regieren". Lösungsmöglichkeiten eröffnen sich nur dann, wenn die Kompetenzen und Verantwortlichkeiten der verschiedenen Gruppen kreativ, innovativ und gleichberechtigt zusammengebracht werden.
Das Internet eignet sich nicht für ideologische Grabenkämpfe. Entscheidungsmacht gehört dort hin, wo fachliche Kompetenz, soziale Verantwortung, wirtschaftliche Vernunft und politische Weisheit zu Hause sind. Eine solche Politik kann nicht "von oben" diktiert oder per Mehrheitsbeschluss durchgeboxt werden. Sie benötigt einen transparenten und offenen Politikentwicklungsprozess "von unten", der den mündigen Bürger, den technischen Experten, den innovativen Unternehmer und den gewählten Repräsentanten gleichermaßen einschließt. Monopolisierung von Entscheidungsmacht schwächt die Demokratie. Erweiterung von Mitspracherechten der unmittelbar Betroffenen stärkt sie.
Die deutsche Politikkultur ist aber noch immer im 20. Jahrhundert: Sie kommt von oben und findet weitgehend hinter verschlossenen Türen statt, was einseitigen Lobbyismus und schräge Lösungen begünstigt. Auf den mündigen Bürger wird gerne in Sonntagsreden abgehoben, wenn er sich aber tatsächlich zu Wort meldet, ist das Erschrecken groß. Die Kanzlerin stärkt gerne den Rücken der Zivilgesellschaft in Russland und China. Das Argument aber, in Deutschland sei die Zivilgesellschaft ja über die Parteien im Parlament repräsentiert, greift im Informationszeitalter zu kurz. Die Repräsentationskette im politischen Betrieb ist mittlerweile so lang geworden, dass nur noch selten der Input von unten auch oben ankommt. Demokratieverdrossenheit ist eine der Konsequenzen der mitunter kafkaesken politischen Prozesse.
Das im Internet funktionierende End-zu-End-Prinzip eröffnet für eine moderne Politik interessante Anregungen wie repräsentative Demokratie mit partizipatorischen Elementen angereichert werden kann. Wir brauchen ein weniger verspanntes Verhältnis zu politischen Innovationen und ein größeres öffentliches Bewusstsein zu den Möglichkeiten, Risiken und Nebenwirkungen des Internet. Wir brauchen mehr Aufklärung. Interneterziehung sollte im Kindergarten beginnen. Wenn der selbstbewusste mündige Internetbürger gewünscht ist, muss er auch größere Mitspracherechte erhalten, wenn es darum geht, wie die Zukunft des Internet gestaltet wird. Was fehlt in Deutschland, ist eine echte Dialogbereitschaft, eine Gesprächskultur, bei der man nicht mit den Muskeln spielt und Macht demonstriert, sondern sich an einen "runden Tisch" setzt , bei der man nicht übereinander, sondern miteinander redet, bei der man zuhört und bereit ist, das bessere Argument zu akzeptieren.
Wolfgang Kleinwächter ist Professor für Internet Politik und Regulierung an der Universität Aarhus und persönlicher Berater des Vorsitzenden des UN Internet Governance Forums (IGF)