Wegschauen, statt Flüchtlinge retten
Für die britische Regierung verstärkt Seenotrettung die Flüchtlingsströme, Italien reduziert Mare Nostrum, die EU führt die Operation Triton zum Schutz der Grenzen ein
Die italienische Regierung will aus Kostengründen die Rettungsoperation Mare Nostrum einstellen. 130.000 Menschen konnten im Mittelmeer gerettet werden, auch wenn tausende Flüchtlinge beim Versuch der Überquerung ertrunken sind. Der italienischen Regierung kostete die Operation etwa 9 Millionen Euro im Monat. Weil sich die übrigen europäischen Länder daran nicht finanziell beteiligen wollten, wird die Operation jetzt zwar anscheinend noch nicht gleich beendet, wie dies angekündigt worden war, aber reduziert. Ab 1. November wird die Operation der EU-Grenzschutzagentur Frontex mit Namen Triton starten.
Triton soll nur 2,8 Millionen Euro im Monat kosten und wird nur in der Nähe der italienischen Küste das Gewässer überwachen, während Mare Nostrum auch noch bis in den libyschen Seeraum Rettungen vornahm. Angenommen wird, dass Triton weniger der Seenotrettung dient, sondern vor allem der Grenzkontrolle und der Abwehr von Flüchtlingen. So erklärte der Frontex-Chef Gil Arias Fernandez, die primäre Aufgabe der Operation sei die Grenzkontrolle, er müsse jedoch betonen, "dass wir wie in allen unseren maritimen Operationen die Rettung von Menschenleben als eine absolute Priorität für unsere Behörde betrachten". Allerding forderte er noch Anfang Oktober die EU-Mitgliedsländer technische Hilfen wie Schiffe oder Flugzeuge zur Verfügung zu stellen. Frontex sieht die Luftüberwachung als primär zur "Früherkennung" an.
In einem Interview sagte Fernandez, dass 2014 trotz Mare Nostrum "deutlich mehr" Flüchtlinge ertrunken seien, was mit den gestiegenen Flüchtlingszahlen zu tun habe, aber auch mit den Schleppern. Die würden "wesentlich mehr Flüchtlinge auf ihren Booten unterbringen und diesen weniger Lebensmittel, Wasser und Benzin mitgeben, seit Mare Nostrum eingerichtet wurde. Sie missbrauchen die Operation. Das erhöht das Risiko für die Flüchtlinge sogar noch."
Obgleich er genau dies suggerierte, will Fernandez dies nicht so verstanden haben, als sei Mare Nostrum oder eine Rettungsoperation kontraproduktiv. Das sei eine "Verdrehung" dessen, was er gemeint habe, um dann anzufügen: "Mare Nostrum hat schließlich tausende Leben gerettet. Doch ich sage auch, dass die Schlepper die Reichweite von Mare Nostrum ausnutzen." Zudem machte er auch klar, dass es um die Überwachung der Grenzen bei Triton gehe, es gebe keinen Auftrag, Flüchtlinge zu retten, was gleich wieder zu rhetorischen Erklärungen führt: "Das bedeutet nicht, dass wir Flüchtlinge, die in Seenot geraten, nicht retten. Faktisch machen wir das natürlich sehr oft. Doch anders als die Flotte von Mare Nostrum fahren wir nicht raus, um gezielt nach Flüchtlingsbooten zu suchen."
The presence of the naval assets of Mare Nostrum close to the Libyan coast, which may encourage migrants belonging to those nationals whose countries have no readmission agreements with Italy.
Konzeptpapier für die Frontex-Operation Triton.
Fernandez ist mit seiner Meinung nicht alleine, Mare Nostrum für den Anstieg der Flüchtlinge mit verantwortlich zu machen, die man nicht haben will. Noch direkter hat dies die britische Außenministerin Lady Anelay deutlich gemacht, die vermutlich nur klar ausspricht, was die Meinung der meisten EU-Regierungen sein dürften. Sie erklärte, dass Großbritannien keine "geplanten Such- und Rettungsoperationen im Mittelmeer" mehr unterstützen werde, was im Klartext heißt, dass man wegschauen und Flüchtlinge ertrinken lassen will. Begründet wird dies von ihr damit, dass es bei solchen Rettungsoperationen "einen unbeabsichtigten Pull-Faktor" gebe, "der mehr Migranten bestärkt zu versuchen, das gefährliche Meer zu überqueren und des deshalb zu mehr tragischen und unnötigen Toden führt".
Nach ihr sieht die britische Regierung "die effektivste Methode zur Verhinderung der Versuche dieser gefährlichen Überquerung von Flüchtlingen und Migranten darin, unsere Aufmerksamkeit auf die Herkunfts- und Transitländer zu konzentrieren und Schritte zu unternehmen, um die Menschenschmuggler zu bekämpfen, die absichtlich Menschenleben riskieren, indem sie Migranten in nicht geeignete Boote packen". So dreht man also die Argumentation um, nämlich dass die eigentlich humanitäre Hilfe darin besteht, die Flüchtlinge nicht flüchten oder sie dann halt zur Abschreckung ertrinken zu lassen. Aus diesem Grund nimmt Großbritannien nicht einmal an der Operation Triton teil, vermutlich deswegen, weil eben unbeabsichtigt und entgegen des Auftrags womöglich doch Flüchtlinge in Seenot gerettet werden müssen.
Die schroffe Haltung der britischen Regierung blieb nicht unkommentiert. So sagte Maurice Wren vom British Refugee Council, diese scheine zu vergessen, dass die größte Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg herrsche: "Menschen, die vor Grausamkeiten fliehen, werden nicht aufhören zu kommen, wenn wir keine Rettungsringe mehr auswerfen." Es sei durchaus vernünftig, ein unsicheres Boot zu besteigen, wenn das eigene Leben bedroht ist. Die Entscheidung werde zu dazu führen, dass noch mehr Menschen vor der Schwelle Europas sterben. Heute bezeichnete sie die Entscheidung als einen "Affront für die grundlegende Menschlichkeit".
Auch Labour-Abgeordnete wie Mark Lazarowicz wiesen in einer Debatte im Parlament darauf hin, dass die Menschen vor "Kriegen, Armut und Verhungern" fliehen und wissen, was heißt, sein Leben zu riskieren. Die Seenotrettung einzustellen, sei nicht nur "grausam und inhuman, sondernn widerspreche auf jeder Logik", da die Menschen so verzweifelt sind, dass sie die Reise auf jeden Fall antreten werden. Oder Ian Lucas erklärt, dass Großbritannien Luftangriffe in Syrien unterstützt. Es sei eine "moralische Verpflichtung", Menschen zu helfen, die aus Kriegsgebieten flüchten, in denen Großbritannien beteiligt ist. Für die Regierung erklärte James Brokenshire, zuständig für Zuwanderung im Innenministerium, es sei eben die "harte Wirklichkeit", dass mehr Menschen während der Rettungsmissionen von Mare Nostrum gestorben seien:
Since Italy launched its Mare Nostrum operation in October 2013, there has been an unprecedented increase in illegal immigration across the Mediterranean and a fourfold increase in the deaths of those making that perilous journey. The operation has been drawn closer and closer to the Libyan shore, as traffickers have taken advantage of the situation by placing more vulnerable people in unseaworthy boats on the basis that they will be rescued and taken to Italy. However, many are not rescued, which is why we believe that the operation is having the unintended consequence of placing more lives at risk, and why EU member states have unanimously agreed that the operation should be promptly phased out.
James Brokenshire
Der italienische Admiral Filippo Foffi erklärte, dass die Regierung bislang Mare Nostrum noch nicht gestoppt habe. In internationalen Gewässern müsse eine Kooperation zwichen Triton und Mare Nostrum stattfinden. Klar scheint nur zu sein, dass der Umfang der Seenotrettungsmission der italienischen Regierung erst einmal reduziert wird.