Weihnachten: Traumschlaf des Kapitalismus
Seite 2: Weihnachten als Kollektivtraum
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Das "Liebesfest" lässt in Wahrheit die Sterne am Himmel der Kasseneinnahmen funkeln. Es generiert eine Scheinwelt, und die existiert nur in der Masse, die den Kollektivtraum träumt. Im Neuen als dem Immergleichen findet sie ihren falschen Trost.
Die weihnachtliche Scheinwelt als Ausdruck der Trost-Suche: Das wäre in Zeiten wie diesen sogar noch verständlich. Doch Corona ändert gar nichts an den ökonomischen, materiellen wie immateriellen Strukturen, die als Treiber hinter der Geschenkeschlacht stehen, mag diese 2020 und 2021 auch Nachschub- und Absatzsorgen haben.
Das "Verharren in der Warenanhäufung" ist und bleibt eine Fiktion. Anders: eine Fantasmagorie.
Im "Traumschlaf des Kapitalismus" sieht der Philosoph Carl Freytag den Zustand, in dem sich die Ware in den Fantasmagorien zur Schau stellt. Der "geronnene Schein" der Warenwelt ist nichts anderes als der zusammengedampfte Ausdruck der Tauschgesellschaft.1
Nicht zu vergessen: Zum Gott des Tauschs gesellt sich der Handelsgott Hermes (lat.: Mercurius), magischer Götterbote und Seelengeleiter. Er wird gerne mit Flügelschuhen dargestellt, häufig mit einem Widder auf seinen Schultern ("Guter Hirte").
Wohl nicht zufällig ist einer der deutschen Top-5-Versanddienstleister (rund 30 Prozent Marktanteil) nach dem Olympier benannt.
Die "eine Welt" und der Makel der Ausbeutung
Gerne wird im Weihnachtsmythos die "Eine Welt" beschworen. Der Anschein von Einheit und Brüderlichkeit hält aber dem Ansturm der Wirklichkeit nicht stand. Freytag sagt2:
In der Phantasmagorie der "One World" wird alles geeint unter dem Äquivalenzgebot des Warentauschs.
Carl Freytag, 1992
Der Kulturkritiker Walter Benjamin (1892-1940), ein von den Faschisten in den Tod getriebener Linksintellektueller, formulierte so:
Das Bild, das die warenproduzierende Gesellschaft (…) von sich produziert und das sie als ihre Kultur zu beschreiben pflegt, entspricht dem Begriff der Phantasmagorie.
Walter Benjamin, 1938
Nun, auch das gehört zum Denkbild hinzu: Die sorgsam verschleierte Verbindung der Waren mit der Barbarei. Die obszönen Warenströme bergen kein Mysterium. Der festlichen Leuchtkraft haftet der Makel der Ungleichheit, der Ungerechtigkeit, der anhaltenden Ausbeutung an.
Afghanistan? Gott sei Dank weit weg. Tote an Europas Küsten? Bitte nicht jetzt. 10.000 Obdachlose allein in der Regierungshauptstadt? Klingt viel.
Unnachahmlich formuliert der ungarische Essayist György Konrád (gest. 2019)3:
(…) Konsumierlust, frei von Gewissensbissen, was über den individuellen Lebensbereich hinausgeht, ist eigentlich uninteressant.
György Konrád, 1988
Hippe LEDs, nichts dazugelernt
Zum Schluss nur das Beispiel Afrika: Während Oma geboostert unter dem Baum sitzt, sind anderswo noch nicht mal zehn Prozent unserer Erdmitbewohner geimpft. In Afrika sind es weniger als sieben Prozent. Weltweit sind mehr als 40 Prozent der Menschen vollständig geimpft.
Und, wie man kürzlich hier auf Telepolis lesen konnte: Afrikas wichtigster Vakzinlieferant ist zurzeit nicht das sogenannt christliche Europa, sondern das kommunistische China.
Menschen als rastlose Glücksmaschinen, Konsumismus als Staatsreligion, so beschrieb Fabian Scheidler den vorherrschenden Individualismus.4 In der vorweihnachtlichen Blase zappeln, unbehelligt vom Störfeuer schlechter Nachrichten, derweil auch junge und "aufgeklärte" Eltern wie Marionetten an der Kommerzkordel.
Nichts dazugelernt, außer Verpackung? Neudeutsch Xmas. Na dann – ab in den fantasmagorischen Familienbunker.