Weißrusslands langsame Emanzipation

Um sich aus der Abhängigkeit von Russland zu lösen, öffnet sich die "letzte Diktatur Europas" stärker zum Westen

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Weißrussland stand noch nie besonders im Blickfeld der westlichen Medien. Lediglich wenn Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen in der ehemaligen Sowjetrepublik stattfanden, rückte die" letzte Diktatur Europas" in den Fokus der westlichen Presse, oder wenn durch die weißrussischen Pipelines kein russisches Öl mehr nach Europa floss. Noch mehr in den Hintergrund geraten ist Weißrussland durch den Kaukasus-Konflikt. Dabei versucht das weißrussische Regime gerade, im Vorfeld der am 28. September stattfindenden Parlamentswahlen, einen Mittelweg zwischen Russland und dem Westen zu finden. Ein Beispiel dafür sind die von der EU und den USA geforderten Haftentlassungen der Oppositionspolitiker Alexander Kosulin, Sergej Parsjukewitsch und Andrej Kim, sowie die fast gleichzeitige Zusage an Moskau, auf weißrussischem Territorium ein gemeinsames Luftabwehrsystem aufzubauen.

Wer als Sieger der im März 2006 stattgefundenen Präsidentschaftswahlen in Weißrussland hervorgehen würde, war allen klar – Alexander Lukaschenko. Der seit 1994 regierende Präsident tat vor zwei Jahren alles, um die Wahl zur seinen Gunsten zu beeinflussen. Oppositionspolitiker und Gegenkandidaten wurden drangsaliert, die wenige freie Presse unterdrückt (Die Fortsetzung des stalinistischen Zeitalters). Nicht besonders überraschend war deshalb das Ergebnis des damaligen Urnengangs. Mit 83 Prozent der Stimmen sicherte sich Lukaschenko eine dritte Amtszeit, obwohl die Verfassung dem Präsidenten eigentlich nur zwei Amtsperioden vorschreibt.

Wegen der Manipulationen kam es nach den Wahlen zu Protesten in der weißrussischen Hauptstadt, die vom Regime mit aller Brutalität unterdrückt wurden. Demonstranten wurden von der Polizei niedergeknüppelt, verhaftet und später vor Gericht gestellt.

Der damals bekannteste Verhaftete und zu einer Gefängnisstrafe verurteilte war der Oppositionspolitiker Alexander Kosulin. Zur fünfeinhalb Jahren Haft wurde der Präsidentschaftskandidat der sozialdemokratischen Partei Hramada verurteilt - wegen „schweren Rowdytums“ und der Organisation einer nicht genehmigten Veranstaltung. Im Westen löste dieses Gerichtsurteil Empörung aus. Die USA brachten den Fall vor den UN-Sicherheitsrat, die Europäische Union, die als Reaktion auf die Präsidentschaftswahlen Sanktionen gegen die ehemalige Sowjetrepublik erhob, verlangte die Entlassung des Politikers, der von 1998 bis 2001 Minister unter Alexander Lukaschenko war.

Oppositionspolitiker werden aus der Haft entlassen

Die Freilassung Kosulins, des bekanntesten politischen Häftlings Weißrusslands, sowie weiterer inhaftierter Oppositionspolitiker, entwickelte sich auch zu einer Vorbedingung für die Neuaufnahme der Beziehungen zwischen Weißrussland und der EU sowie den USA. Voraussetzungen, die Minsk seit Anfang des Jahres zu erfüllen bereit war. Bereits im Februar ließ Lukaschenko einige inhaftierte Oppositionspolitiker frei.

Alexander Kosulin gehörte jedoch nicht dazu. Nachdem dieser eine von der weißrussischen Regierung angebotene Ausreise nach Deutschland abgelehnt hat, wurden die Haftbedingungen Kosulins sogar verschärft. So verweigerte ihm das Regime einen Besuch am Sterbebett seiner an Krebs erkrankten Ehefrau Irina. Die Teilnahme an ihrer Beerdigung hat sich der ehemalige Präsidentschaftskandidat mit einem Hungerstreik erkämpft.

Doch nach über zwei Jahren hat die Haftzeit von Alexander Kosulin ein Ende. Am 16. August, zwei Tage vor der Beisetzung seines Schwiegervaters, wurde der Oppositionspolitiker überraschend freigelassen. „Ich begrüße die gestrige Entscheidung der weißrussischen Führung, Alexander Kosulin endlich aus der Haft zu entlassen“, sagte der deutsche Außenminister in einer offiziellen Stellungnahme und drückte seine damit verbundene Hoffnung auf eine engere Zusammenarbeit zwischen Weißrussland und der Europäischen Union aus. Und auch in Minsk fragt man sich, ob mit der Entlassung des Oppositionspolitikers Weißrussland ein Durchbruch in seinen Beziehungen zum Westen gelingt. Vor allem auch deshalb, weil am Mittwoch mit Sergej Parsjukowitsch und Andrej Kim die letzten zwei prominenten Oppositionspolitiker überraschend aus dem Gefängnis entlassen wurden.

Aber auch wenn die aktuellen Haftentlassungen Zeichen des guten Willens an den Westen im Vorfeld der am 28. September stattfindenden Parlamentswahlen sind, die damit auch einen "legitimeren" Touch bekommen sollen, kann von einem Durchbruch oder gar einer Annäherung an den Westen nicht gesprochen werden. Bei dem in einem Monat stattfindenden Urnengang treten schon jetzt Manipulationsversuche des Regimes hervor, die zu Unstimmigkeiten zwischen dem Westen und Weißrussland führen könnten.

So klagte das Belarussische Helsinki Komitee, die einzig noch in Weißrussland agierende Menschenrechtsorganisation, erst kürzlich über Repressalien des Lukaschenko-Regimes, wie Hausdurchsuchungen in ihren Räumen, eingeschränkter Zugang der Opposition zur Presse sowie deren Behinderung im Wahlkampf. Außerdem steht jetzt schon fest, dass bei der Stimmauszählung kaum Vertreter der Opposition in den Wahllokalen zugelassen sein werden was die Regimegegner neue Wahlfälschungen befürchten lässt.

Weniger Öffnung, sondern außenpolitische Neuorientierung

Doch trotz allem finden in Weißrussland Veränderungen statt, die der Westen erfreut beobachten dürfte. Als letzter Nachfolgestaat der Sowjetunion, führt auch Weißrussland schrittweise marktwirtschaftliche Strukturen im Land ein (Sommerschlussverkauf in "Europas letzter Diktatur"), die in Minsk mit einigen Erwartungen verbunden sind. Doch Investoren wie das türkische Mobilfunkunternehmen Turkcell, das für 500 Millionen Dollar 80 Prozent am staatlichen Mobilfunkanbieter BeST übernommen, sind bisher eher selten. Nicht ohne Grund bemängelte vorige Woche der weißrussische Ministerpräsident Sergej Sidorski die niedrigen Auslandsinvestitionen, die sich im ersten Halbjahr lediglich auf 1.5 Millionen Dollar beliefen.

Doch all diese aufgezählten Veränderungen sind keine Schritte, die auf eine endgültige Öffnung des Landes gen Westen oder gar eine Demokratisierung hinweisen. Vielmehr versucht das Lukaschenko-Regime sich außenpolitisch neu zu positionieren, um innenpolitisch lebensfähig zu bleiben. Denn um die Beziehungen zu Russland, dem bis jetzt wichtigsten Partner Lukaschenkos, steht es momentan nicht zum Besten.

Weißrussland in Abhängigkeit von Russland

Dabei war es Moskau, das bisher das politische Überleben Lukaschenkos sicherte. Mit bis zu 4 Milliarden Dollar jährlich subventionierte der große russische Bruder seinen kleinen westlichen Nachbarn. Dies hat sich jedoch geändert. Seit dem 1. Januar 2007 muss Minsk einen höheren Preis an den russischen Monopolisten Gasprom zahlen (Russische Politik mit Zuckerbrot und Peitsche). Von allen Staaten der ehemaligen Sowjetunion zahlt Weißrussland zwar immer noch den niedrigsten Preis, doch für dieses Privileg musste Minsk schmerzhafte Einbußen hinnehmen. Für 2.5 Milliarden Dollar gab Weißrussland 50 Prozent seiner Pipelinegesellschaft Beltransgas an Gasprom ab.

Mit diesem Deal ist das Thema Gas aber nicht von der täglichen Agenda verschwunden. Bei dem am 31. Dezember 2006 vereinbarten Kompromiss wurde ebenfalls eine schrittweise Erhöhung des Gaspreises bis 2011 vereinbart, ab diesem Datum muss auch Weißrussland sein Gas zu Weltmarktpreisen beziehen. Doch die letzte Diktatur Europas hat schon heute Schwierigkeiten sein Gas zu bezahlen. Erst im Juli drohte Gasprom Weißrussland mit juristischen Schritten, da es statt der vereinbarten 128 Dollar pro 1000 Kubikmeter lediglich den alten Preis von 119 Dollar in die Moskauer Gasprom-Zentrale überwies. Erst in letzter Minute konnten sich die beiden Seiten einigen.

Großes Unbehagen bereitet Lukaschenko aber nicht nur die russische Gaspolitik. Vor einigen Wochen bekundeten die russischen Ölkonzerne Rosneft und Lukoil ihr Interesse an einigen Raffinerien, die zu den Schlüsselbetrieben der weißrussischen Wirtschaft gehören. Eine Übernahme der Raffinerien durch die beiden russischen Konzerne, vor allem der durch Rosneft, würde Weißrussland aber noch abhängiger von seinem großen Nachbar machen und vor allem einen enormen wirtschaftlichen Verlust bedeuten. Nachdem Weißrussland schon 50 Prozent von Beltransgas an Gasprom abgeben musste, hätte sich mit Rosneft ein weiteres russisches Staatsunternehmen Juwelen der sonst wenig rentablen weißrussischen Staatswirtschaft angeeignet. Deshalb ist es auch nicht besonders verwunderlich, dass Lukaschenko nach neuen Wirtschaftspartnern sucht. Erst kürzlich schloss Weißrussland beispielsweise eine engere Wirtschaftkooperation mit Venezuela ab

Nach außen hin bemühen sich Russland und Weißrussland jedoch um Harmonie. Erst am 22. Juni dieses Jahres, bei einem offiziellen Staatsbesuch der russischen Präsidenten Medwedew in Weißrussland, wurde erneut eine engere Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten beschlossen, mit dem langfristigen Ziel einer Union. Weitere Schritte in diese Richtung, trotz aller Spekulationen, wurden bisher aber nicht unternommen – was nicht besonders verwunderlich ist. Seit seiner Machtübernahme 1994 spricht Alexander Lukaschenko von einer Union, ja gar von einer Vereinigung mit Russland. Bekundungen, die dem Kreml schmeichelten und dazu bewegten, Lukaschenko mit jährlichen Investitionen zu unterstützen.

Navigieren zwischen den Fronten

Doch in den letzten Jahren zeigte sich Moskau immer öfters enttäuscht von seinem westlichen Nachbar und Freund, wie zuletzt während des Konflikts im Kaukasus. Um seine Entspannungspolitik gegenüber dem Westen nicht zu belasten, enthielt sich Minsk jeglicher Stellungnahme zum russischen Militäreinsatz in Georgien, weshalb sich der russische Botschafter in Weißrussland zu einer heftigen Kritik an der belarussischen Haltung gezwungen sah. Mangelnde Unterstützung und unterlassene humanitäre Hilfe warf Alexander Surikov der weißrussischen Führung vor.

Doch dies hat Alexander Lukaschenko wieder gutgemacht. Nachdem Weißrussland Hilfsgüter nach Südossetien schickte, lobte er bei einem Treffen mit dem russischen Präsidenten Dimitri Medwedew am vergangenen Dienstag die Vorgehensweise der russischen Armee im Kaukasus. „Ruhig, weise und schön“ sei Russland seiner Meinung nach im Georgien vorgegangen

Noch zufrieden stellender dürfte für Moskau aber eine andere in Sotschi getroffene Entscheidung gewesen sein. Als Reaktion auf die Einigung zwischen Polen und den USA beim geplanten Raketenabwehrsystem in Osteuropa (Die Raketen sind angekommen), haben sich Lukaschenko und Medwedew auf die Errichtung eines gemeinsamen Luftabwehrsystems in Weißrussland geeinigt. Einen Tag darauf entließ Lukaschenko Sergej Parsjukewitsch und Andrej Kim aus der Haft – als Zeichen des guten Willens an den Westen.