Weiter im Ausnahmezustand
Ägypten nach den Ausschreitungen zum Jahrestag der Revolution von 2011
Zwei Jahre nach Absetzung des Präsidenten Mubarak sucht sein Nachfolger angesichts gewalttätiger Ausschreitungen auf den Straßen mehrerer äygptischer Städte den nationalen Dialog. Die Bilanz der letzten Tage ist bitter, fast 40 Tote, über 1000 Verletzte.
Mursi verweist, wie dies auch schon Mubarak tat, auf Drahtzieher der Unruhen im Ausland. Denen, die ihre Wut und ihren Protest auf die Straßen trugen, wirft er vor, dass sie Konterrevolutionäre sind, Saboteure. Auch in der Vereinfachung komplexer Verhältnisse gleichen sich politische Führer. Mursis Erklärung des Ausnahmezustands in den Städten Port Said, Ismailia und Suez, evoziert ebenfalls Vergleiche zu Mubaraks Machterhaltungspolitik.
Auch außenpoltisch setzt Ägyptens Führung auf erstaunliche Kontinuität, wie ein Kommentar von al-Akhbar konstatiert. Dessen Fragen danach, was sich eigentlich durch Mursi und die Muslimbrüder verändert hat, sind unbequem. Zum Beispiel, wenn es ums Geld geht.
Kann irgendjemand beweisen, dass das Geld, das durch die NDP, der Regierungspartei unter Mubarak und seiner Clique, festohlen wurde, wiederbeschafft wurde? Oder wird das Landeseigentum einfach von einem Regime zum anderen weitergereicht?
Bemerkenswert an den gewaltsamen Ausschreitungen der vergangenen Tage ist, dass sie niemanden sonderlich zu überraschen schienen. Seit Mursis Novemberdekreten kam "die Straße" nicht zur Ruhe. Es entsteht so der Eindruck, dass Proteste für einen Teil der urbanen Bevölkerung als einzige Möglichkeit verstanden werden, Druck auf die Regierung auszuüben, dessen Wirkung sichtbar ist. Laut dem ägyptischen Blog The Arabist ist es Demonstranten in der vergangenen Woche zum ersten Mal gelungen, in großer Zahl auf U-Bahn-Gleisen in Kairo zu marschieren und den Metro-Verkehr auf einer Linie zum Stoppen zu bringen. Das sei bislang noch nicht dagewesen und das Signal deutlich: "Ihr könnt uns nicht stoppen, wir dagegen können wichtige Verkehrspunkte blockieren, das System zu halten bringen."
Viel Energie, die weder Mursi, noch die Muslimbrüder, noch die Opposition in einen politischen Prozess zu bündeln vermögen, verschafft sich in wütenden Aktionen Luft, bei denen nicht klar wird, welche Strategie sie verfolgen - außer auf die eigene Stärke hinzuweisen. Zu befürchten ist, dass die Regierung Mursi mit Maßnahmen darauf reagiert, welche ihrerseits auf Stärke setzen, was möglicherweise in eine Spirale der wechselseitigen Radikalisierung mündet.
Misstrauen gegenüber der Justiz
Das Vertrauen in die Regierungspolitik Mursis und der Mehrheitspartei der Muslimbrüder ist vor allem in den Städten nicht groß. Das zeigt sich besonders in der Reaktion auf Gerichtsurteile. Dass, wie am Wochenende, eine Gerichtsentscheidung, Anlass zu Protesten und Krawallen gibt - in Port Said stürmten Aufgebrachte das Gefängnis, weil sie Inhaftierte, die zum Tode verurteilt wurden, befreien wollten -, ist bezeichnend. Die Justiz wird nicht als unabhängig begriffen, sondern als Variable politischen Drucks.
Als die sich die Justiz auch immer wieder zeigt. Wieso wurde das mit politischen Konflikten aufgeladene Urteil zu den den tödlichen Ausschreitungen nach einem Fußballspiel Anfang Februar vergangenen Jahres ("Ein Szenario, das die ägyptische Gesellschaft bis in ihren Kern erschüttert") genau zu dem Zeitpunkt gesprochen, an dem sich das Land mit dem zweiten Jahrestag der Revolution beschäftigte? Warum wurden gewalttätige Fußball-Fans zum Tode verurteilt, aber nicht ihre Hintermänner, die das tödliche Aufeinandertreffen mit den Ultras aus Kairo - die bei den Straßenkämpfen gegen Mubaraks Sicherheitsapparat eine wichtige Rolle spielten - begünstigten?
Warum wurde der Prozess gegen die "Sicherheitskräfte" verschoben? Warum wurde der Prozess nach Kairo verlegt? Und schließlich warum zum ersten Mal Todesurteile in dieser Sache, während man in anderen Prozessen, in denen der Apparatschiks unter Mubarak Verantwortung für Gewaltätigkeiten vorgeworfen wird, davor zurückscheut.
All diese Fragen, die in ägyptischen Publikationen, Zeitungen wie Blogs zu lesen sind, zeigen, wie politisiert die Justiz ist. Dass die Straße ihrerseits Druck auf Gerichte ausübt, wenn man der Staatsanwaltschaft politische Abhängigkeiten unterstellt, geschieht dann beinahe zwangsläufig. Vor allem wenn sich das Gefühl ausbreitet, dass die Muslimbrüder es insbesondere darauf anlegen, ihre Macht institutionell auszubauen, statt staatliche Institutionen in die Richtung zu reformieren, für die Millionen vor zwei Jahren demonstriert haben.
Eine gerechte Justiz, zusammen mit besseren wirtschaftlichen Verhältnissen, gaben die Ägypter gegenüber dem amerikanischen PEW-Umfrageinstitut als Top-Priority an.