Welt als Gehirnversuch, Unsicherheit zu reduzieren

Seite 2: "Das normale Wachbewusstsein ist in Wirklichkeit eine Form des Online-Träumens"

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Ein Mensch, welcher bestimmte Dinge kapiert, geht mit ihnen auch anders um. Aber sieht der Mensch, der gewisse Dinge begreift, anders als der, der sie nicht begreift?

Thomas Metzinger: Natürlich, begriffliches Vorwissen, unsere Lebensgeschichte und automatische Annahmen darüber, was es überhaupt zu sehen gibt, beeinflussen sehr stark, was überhaupt in unserem visuellen Wirklichkeitsmodell auftauchen kann. In unserem Begriff des "Begreifens" ist ja auch schon seit Jahrhunderten das leibliche Erfassen, das Handeln in einem räumlichen Kontext angelegt: "Konzept" kommt von concipere, also dem Erfassen und Festhalten.

Im "Ego-Tunnel" habe ich darüber spekuliert, wie das geistige Erfassen aus virtuellen Greifbewegungen heraus evolviert sein könnte, wie Denken also eine Form des motorischen Handelns mit einem virtuellen Selbstmodell sein könnte. Eine der wichtigen Konsequenzen aus dem bereits erwähnten mathematischen Modell der Gehirnfunktion von Karl Friston ist übrigens auch, dass es eine scharfe Grenze zwischen Denken und Wahrnehmen überhaupt nicht gibt. Sehen ist eine besondere Form des Halluzinierens - oder, wie ich in früheren Veröffentlichungen gesagt habe: Das normale Wachbewusstsein ist in Wirklichkeit eine Form des Online-Träumens.

Ist es eigentlich möglich, dass jeder Mensch die Dinge anders wahrnimmt, dass zum Beispiel der eine blau und der andere rot sieht, während beide vermeinen; gelb zu sehen, dieses aber nicht auffällt, weil sie sich alle auf dasselbe beziehen?

Thomas Metzinger: Das ist ein uraltes philosophisches Gedankenexperiment, das es seit dem 17. Jahrhundert gibt. In der wirklichen Welt ist das nicht möglich, die Frage ist für viele Philosophen allerdings, ob es denkbar ist, ob es also eine logische mögliche Welt gibt, in der die systematische Inversion von Empfindungsqualitäten unbemerkt bleiben könnte. Ich glaube das nicht, weil es voraussetzt, dass solche Sinnesqualitäten kontextinvariante "Bewusstseinsatome" sind.

So etwas gibt es nicht. Zum Begriff der subjektiven Farbe gehört zum Beispiel auch, dass sie emotionale Konnotationen hat und mit subtilen Bewegungsempfindungen einhergeht - die guten Maler wissen das seit Jahrhunderten. Viele sehr subtile Farbnuancen können wir subjektiv außerdem überhaupt nicht zuverlässig von einem Erlebnis zum anderen durch die Zeit hinweg reidentifizieren.

Dies ist ein schönes Ergebnis der empirischen Forschung, weil es zeigt, dass es viele Aspekte unseres eigenen sensorischen Bewusstseins gibt, die wirklich nur im bewussten Jetzt verfügbar sind, in der Innerlichkeit des subjektiven Erlebens und die nicht in den öffentlichen Raum des Denkens und Sprechens transportiert werden können. Das menschliche Farberleben ist ganzheitlicher, aber auch unaussprechlicher als viele analytische Philosophen gedacht haben.

"Wie falsch fünf Jahrzehnte Verdrängung und Desinformation waren und wie rasant jetzt die Entwicklung verläuft, zeigt sich gerade im Bereich illegaler psychoaktiver Substanzen"

Sie schreiben, dass der Menschen bald technisch in der Lage sein wird, seine "neurochemische Landschaft im Gehirn" bewusst zu verändern. Der Konsum von Drogen, die mit den Kenntnissen der Neuropharmakologie hergestellt werden, nimmt rapide zu. Wie sollte der Gesetzgeber verfahren und welche Gefahren und Potentiale liegen in dieser Entwicklung? Hatten psychoaktive Drogen wie LSD, die ja bis zum Jahr 1962 in den USA legal waren, tatsächlich die fatalen Effekte, aufgrund dessen sie verboten worden sind?

Thomas Metzinger: Das ist ein großes Thema. Ich denke, dass wir den Zeitpunkt für eine rationale gesellschaftliche Lösung endgültig verpasst haben und in den kommenden Jahrzehnten einen hohen Preis bezahlen werden. Wie falsch fünf Jahrzehnte Verdrängung und Desinformation waren und wie rasant jetzt die Entwicklung verläuft, zeigt sich gerade im Bereich illegaler psychoaktiver Substanzen: In der ersten Auflage des Buches - die im Jahr 2010 erschien - habe ich vorsichtig vorausgesagt, dass sich die Zahl der verfügbaren illegalen Drogen bald dramatisch erhöhen könnte. In den drei Jahren seit Erscheinen des Buchs wurden allein in Europa zuerst 41, dann 49 und 2012 sogar 73 völlig neue synthetische Drogen erstmals beschlagnahmt 2013 waren es noch einmal 81 Substanzen mehr, die bisher völlig unbekannt waren.

Wenn man die entsprechenden Jahresberichte von Europol und der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht zur Kenntnis nimmt, dann kann man mit Fug und Recht sagen, dass die Situation inzwischen völlig außer Kontrolle geraten ist. Das betrifft dann jetzt aber auch das Hirndoping mit verschreibungspflichtigen Medikamenten: Sobald es eine tatsächlich wirksame Substanz zur Steigerung der Intelligenz gibt, nutzt es nichts mehr, strenge gesetzliche Kontrollen für die legale Anwendung einzuführen. Durch die jahrzehntelange Verdrängung existieren mittlerweile Hunderte von illegalen Drogenlabors, die das entsprechende Molekül für den illegalen Markt sofort nachbauen und auf den Markt werfen wurden.

Wenn man jetzt ein halbes Jahrhundert später der Tabakindustrie einen großen Gefallen tut, indem man artig dem amerikanischen Trend folgt und Cannabisprodukte legalisiert, dann ändert das an dieser Grundproblematik überhaupt nichts mehr.

Wie verändern die Neuro-Wissenschaften das Selbstbild des Menschen?

Thomas Metzinger: Man muss deutlich unterscheiden zwischen dem deskriptiven Menschenbild (Wie ist der Mensch, wenn man die neuen Forschungsergebnisse berücksichtigt?) und dem normativen Menschenbild (Wie sollte der Mensch sein?). Es ist die Aufgabe von Journalisten, der allgemeinen Öffentlichkeit Änderungen am deskriptiven Menschenbild möglichst sachlich und leicht verständlich zu kommunizieren, ohne dies ständig mit ihren eigenen ideologischen und politischen Zielsetzungen zu vermischen.

Das Problem in der Gegenwart besteht darin, dass es auf der Welt eine große Zahl miteinander im Wettstreit stehender weltanschaulicher Menschenbilder gibt, die alle von der rasanten Entwicklung in den Wissenschaften vom menschlichen Geist zu profitieren versuchen. Es gibt nicht so etwas wie "unser" Menschenbild. Es gibt auch niemanden, der gerne "unser" Menschenbild kaputtmachen möchte. Was es gibt, ist organisierte Sterblichkeitsverleugnung durch die Religionen und politische Trittbrettfahrer der verschiedensten Couleur. Es ist deshalb wichtig, die Hirnforschung und die aus ihr entstehenden sozialen Trends und Technologien nicht nur sehr kritisch, sondern eben auch nüchtern und sachlich zu begleiten.

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