Wenn D'Arcy nur einen Computer gehabt hätte
Wie Computer die Wissenschaft verändert haben
Von den vielen tausend Strategien, mit denen ich nützliche Arbeit zu umgehen suche, gefällt mir am besten, mir vorzustellen, wie Wissenschaftler früherer Zeiten sich der modernen Computer bedient hätten und welche Auswirkung dies auf die Wissenschaft ihrer - und unserer - Zeit gehabt haben würde. Ich vermute beispielsweise, daß Newtons auf der Geometrie basierende Beweisführung für die Bewegung von Teilchen von der Maschine im wesentlichen unberührt geblieben wäre, obgleich Newton eine relationale Datenbank hätte einsetzen können, um die unterschiedlichen biblischen Abstammungslinien nachzuzeichnen, mit denen er sich anscheinend für den Großteil seiner Zeit beschäftigt hatte.
Andererseits ist es wahrscheinlich, daß Kepler viel mehr als seine drei Gesetze der Planetenbewegungen entdeckt und vielleicht sogar Newtons Gleichungen vorweggenommen hätte, wenn er einen SUN- oder SGI-Computer hätte benutzen können. Und für mich besteht kein Zweifel, daß Gauss lange vor de la Vallée Poussin und Hadamard das Primzahltheorem bewiesen hätte, wenn Programme wie Mathematica oder Maple zur Verfügung gehabt hätte, um die Verteilung von Primzahlen zu untersuchen.
Während ich kürzlich im Internet surfte, um nach einem lange vergessenen Thema zu suchen, stieß ich auf einen Hyperlink über die Arbeit des großen, am Ende des letzten Jahrhunderts lebenden schottischen Naturwissenschaftlers und Mathematikers d'Arcy Wentworth Thompson. Dieser glückliche Fund unterstreicht wieder einmal den großen Vorteil von Suchmaschinen, die nicht zu genau oder zu leistungsstark sind, da die Webseite, zu der ich gebracht wurde, schließlich weitaus interessanter als das war, nach dem ich zunächst gesucht hatte.
Wie heute jedenfalls jeder sich selbst respektierende mathematischer Biologie weiß, findet sich der größte Beitrag d'Arcy Thompsons zur theoretischen Biologie im letzten Kapitel seiner wichtigsten Abhandlung Über Wachstum und Form (On Growth and Form), in der eine Theorie biologischer Transformationen vorstellte, wodurch man die Formen von Lebewesen vergleichen konnte. Was auf meinem Bildschirm erschien, war nichts weniger als das, was d'Arcy Thompson gemacht haben würde, wenn er auf seinem Schreibtisch einen Computer anstatt einen Stapel Millimeterpapier, ein Lineal und einen Zirkel.
D'Arcy hatte während einer erstaunlichen Zeitspanne von 64 Jahren einen Lehrstuhl in St. Andrews and Dundee in Schottland. Das ist ein Rekord für eine Amtszeit, der kaum zu brechen sein wird. Auch wenn er mehr als 300 wissenschaftliche Beiträge und Bücher geschrieben hatte, gründet sich sein Ansehen vornehmlich auf seine Versuche, biologische Phänomene auf die Mathematik in Über Wachstum und Form zu reduzieren. Hier stellte er die Behauptung auf, daß man viel von Tieren und Pflanzen durch die Gesetze der Physik, wie sie in der Mathematik sich widerspiegeln, verstehen könnte. Darin brachte d'Arcy seine wesentlich anti-darwinistischen Überzeugungen zum Ausdruck, zumindest in dem Sinn, daß er ziemlich sicher Theodosius Dobzhanskys bekannter Bemerkung nicht zugestimmt hätte, daß "in der Biologie ohne das Licht der Evolution nichts einen Sinn macht." Natürlich glaubte Thompson, daß vieles in der Biologie sehr wohl Sinn außerhalb der Grenzen des Prinzips der natürlichen Selektion macht. Neben seinem akademischen Ansehen scheint Thompson auch in seiner Umgebung einen Ruf als leichter Ekzentriker erhalten zu haben, und ältere Menschen in St. Andrews können sich noch immer erinnern, wie er mit einem Papagei auf der Schulter in der Stadt herumwanderte.
Die neue Idee, die Thompson in Über Wachstum und Form ausbreitete, bestand im Nachweis, wie mathematische Funktionen auf die Formen eines Organismus angewendet werden konnten, um ihn kontinuierlich in andere, körperlich ähnliche Organismen zu verwandeln. Ein berühmtes Beispiel aus seinem Buch findet sich in Abbildung 1, bei dem ein kontinuierliches Pressen und Dehnen eines rechteckigen cartesianischen Gitters die Fischart Scarus sp. auf der linken Hälfte in die Art Pomacanthus auf der rechten Hälfte transformiert. Thompson zeigte auf dieselbe Weise, wie man Bilder von Pavianschädel in die anderer Primaten transformieren konnte und wie korrespondierende Knochen wie die Schulterblätter bei verschiedenen Arten miteinander verwandt sind.
Für einen Topologen ist der Sachverhalt, daß sich die Fischart Scarus sp. kontinuierlich in die Art Pomacanthus transformieren läßt, keineswegs bemerkenswert. Jeder Organismus ist nämlich, topologisch gesehen, eine geschlossene Oberfläche, und man wußte seit vielen Jahren, welche Arten von geschlossenen Oberflächen sich kontinuierlich aufeinander abbilden lassen und welche nicht. Zwei derartige Oberflächen sind, grob gesagt, äquivalent, wenn und nur wenn sie dieselbe Anzahl von "Löchern" aufweisen. Wenn man bedenkt, daß alle höheren Tiere dieselbe Anzahl von Löchern für das Verdauungssystem, Ohren, Nasenlöcher und Augen besitzen, bestätigt Thompsons Analyse von biologischen Transformationen nur den topologischen Sachverhalt, daß es eine kontinuierliche Transformation gibt, die die Gestalt von praktischem jedem Tier in die eines anderen verzerren und verdrehen kann. Auf den ersten Blick scheint also letztendlich nicht viel "Fleisch" an Thompsons Idee zu sein, da eine Welt, in der Erdferkel und Zebras nicht zu unterscheiden sind, keine großen Verheißungen für die Erhellung der Prozesse der Embryologie oder Evolution zu enthalten scheint. Aber nicht so hastig!
Einfach nur zu wissen, daß es irgendeine Transformation gibt, die ein Erdferkel in ein Zebra verformt, ist etwas ganz anderes, als genau zu wissen, welche Transformation dies leistet. Wenn etwas für d'Arcys Ansicht spricht, daß die grundlegenden Prozesse der Evolution und der Entwicklung durch biologische Transformationen mathematisch verstanden werden können, so ist es dies, daß etwas in der genauen Natur der Transformation steckt. Um genau um sich diesem Punkt zuzuwenden, würde d'Arcy, da bin ich mir sicher, einen Computer verwendet haben, wenn es vor einem Jahrhundert solche Maschinen bereits gegeben hätte. Glücklicherweise nahmen zwei seiner Nachfolger an der Fakultät der University of St. Andrews, John J. O'Connor und Edmund F. Robertson, diese Herausforderung auf und schrieben ein Programm zur Untersuchung der genauen analytischen Form dieser "Thompson-Transformationen" (Eine ausführlichere Darstellung dieser Arbeit und ihres historischen Hintergrunds findet man hier).
Das von O'Connor und Robertson geschaffene Programm ermöglicht es den Benutzern, Bilder in Echtzeit durch die Variierung von Parametern in mathematischen Funktionen zu verändern, die die Transformationen beschreiben, um so "vor ihren Augen" zu sehen, wie sich beispielsweise das Bild eines Fisches in das eines anderen verändert. Die Abbildung unten zeigt das Benutzerinterface des Programms für ein weiteres der berühmten Fischbeispiele von d'Arcy Thompson. Das linke Bild, die Fischart Argyropelecus olfersi, wird auf die unbekannte Art auf der rechten Seite durch quadratische Transformationen abgebildet, deren Parameter im unteren Teil des Bildschirms zu sehen sind. Der Leser wird auf der Abbildung bemerken, daß die Transformation in diesem Beispiel nur durch eine lineare Dehnung der x- und y- Achsen erfolgt, da die Quadratzahlen in der Transformation den Wert Null besitzen.
Das Programm läßt symbolisch Abbildungen der Form (x,y) -> (p(x,y), q(x,y)) zu, die einen Punkt (x,y) auf der linken Fläche auf einen Punkt (x,y) auf der rechten übertragen, wobei p und q Polynome der zweiten Potenz (ohne konstante Zahlen) der zwei Variablen x und y darstellen. Daher gibt es eine Gesamtheit von 10 Parametern, die im Prozeß der Transformation der Ursprungsform auf der linken Seite in die Zielform auf der rechten variiert werden können.
Mit dem O'Connor-Robertson-Programm lassen sich also die 10 "Knöpfe" unabhängig voneinander einstellen, was bedeutet, die 10 Parameter in p und q zu variieren, bis sich eine bestimmte Zielform ergibt. Obgleich Thompson eine Vielzahl von Transformationen verwendet hat, entdeckten O'Connor und Thompson, daß die meisten seiner Ergebnisse durch quadratische Abbildungen der oben beschriebenen Art erzielt werden können. Wenn man daher die Parameter herausfindet, die eine bestimmte, von einer Art zu einer anderen führende quadratische Abbildung definieren, können wir hoffen, einen Einblick in die körperlichen und evolutionären Kräfte zu gewinnen, die auf verschiedene Arten einwirken. Wir können das Programm andererseits auch benutzen, um sofort Formen, die niemals beobachtet wurden und vielleicht nie existiert haben, zu untersuchen.
Das Problem bei diesen kontinuierlichen Deformationen ist, daß sich niemals etwas ganz Neues zeigt. Qua Definition kann es keine diskontinuierlichen "Sprünge" von einer Art zu einer ganz anderen durch eine Folge kontinuierlicher Transformationen geben. Damit eine solche Artenbildung stattfinden kann, brauchen wir Singularitäten in den Familien kontinuierlicher Transformationen. Auch wenn ich hier dieses Thema nicht weiter erörtern kann, will ich doch kurz bemerken, daß genau für solch eine Situation René Thom die mathematische Katastrophentheorie vor 30 Jahren erfunden hat. Und Thom weist tatsächlich im Vorwort seiner bahnbrechenden Veröffentlichung über dieses Thema darauf hin, daß er der Arbeit von d'Arcy Thompson, aber auch der des später lebenden schottischen Biologen Conrad H. Weddington Dank schuldet.
Einige der von Thompson in seinem Buch verwendeten Bilder stammen aus dem Werk des Künstlers Albrecht Dürer über Gesichtswinkel. "Ich weiß", wie d'Arcy selbst sagte, "daß bei der Erforschung materieller Dinge Zahl, Anordnung und Position den dreifaltigen Schlüssel zum genauen Wissen bilden. Diese Experimente von Thompson mit kontinuierlichen Verzerrungen solcher Winkel führten zu einer großen Vielfalt an Gesichtern.
Das erinnert an ein Programm, das Susan Brennan von Hewlett-Packard Laboratories vor ein paar Jahren geschrieben hat. Ganz allgemein dient das Programm dazu, ein gegebenes Gesicht kontinuierlich zu verzerren, um eine Karikatur von ihm zu erzeugen. Zur Motivation, dieses Programm zu schreiben, kam die Frage hinzu, wie Menschen so schnell Gesichter erkennen können, selbst wenn nur einige Züge unter schlechten Sichtbedingungen zu sehen sind. Brennan hoffte, daß ihr Programm als Werkzeug verwendet werden könnte, um herauszubekommen, auf genau welche Gesichtszüge sich die Menschen bei diesem bemerkenswerten Mustererkennungsprozeß konzentrieren. Die Einzelheiten des Programms sind an anderer Stelle beschrieben worden, aber sein Prinzip ist die Einfachheit selbst: Vergleiche das Zielgesicht mit einem "Durchschnittsgesicht" und hebe dann die Züge heraus, die sich am meisten vom Durchschnittsgesicht unterscheiden.
Brennan hat ihr Programm als eine schnelle Erkundung des von ihr sogenannten "Gesichtsraums" beschrieben. Die von ihr zur Beschreibung eines Zielgesichts verwendeten 186 Koordinaten lassen sich als die Koordinaten eines einzigen Punktes in einem vieldimensionalen Raum begreifen. Da jedes Gesicht ein Punkt in demselben Raum ist, können zwei Gesichter stets durch eine gerade Linie im Gesichtsraum verbunden werden, wobei jeder Punkt auf der Linie proportionale Veränderungen in jedem der zugeordneten Werte repräsentiert. Die Entfernungen zwischen jeweils zwei Punktpaaren dient dann als Maß dafür, wie ähnlich die Gesichter sind. Wenn wir an d'Arcy Thompson denken, können wir auch den Computer auffordern, eine Übergangssequenz von Elisabeth Taylor als Kleopatra zu John F. Kennedy zu erzeugen.
Eine wesentliche Motivation für die Arbeit von d'Arcy Thompson und Susan Brennan ist die Entdeckung von Invarianten bei der Transformationen von einer Form zu einer anderen. Wenn diese Transformationen überhaupt irgendeinen biologischen oder psychologischen Inhalt haben sollten, dann besteht er vermutlich darin, uns zu zeigen, was genau es uns ermöglicht, die Karikatur von Ronald Reagan als Ronald Reagan und beispielsweise nicht als JFK zu erkennen, oder genau welche Eigenschaften den Fischarten Scarus sp. und Pomacanthus gemeinsam sind. Nur ein besseres Verständnis solcher Invarianten wird es uns ermöglichen, die Komplexität der Lebewesen aufzuschlüsseln.
"Ich weiß", so formulierte es d'Arcy selbst, "daß bei der Erforschung der materiellen Dinge Zahl, Anordnung und Position der dreifältige Schlüssel zum genauen Wissen bilden, und daß diese drei Schlüssel in den Händen von Mathematikern die ersten Umrisse für ein Bild des Universums liefern."
Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors wurde "The Simply Complex: If D'Arcy Had Only Had a Computer" der Zeitschrift Complexity, Vol.1/No. 3, 1995, entnommen.