Wenn Kritiker "aus der Hölle kommen": Wer bringt dem Kanzler Manieren bei?
Olaf Scholz sieht in der Friedenstaube neuerdings ein satanisches Symbol. Das legt seine Äußerung auf dem Münchner Marienplatz nahe. Wie ernst muss er genommen werden?
Lange Zeit galt Olaf Scholz als äußerst wortkarg. In seiner Funktion als SPD-Generalsekretär unter Gerhard Schröder wurde er mit telegrammartigen, gestanzten Statements bekannt, die er stets wie ein Roboter mit unbewegter Mine aufsagte: Typisch "Scholzomat" eben. Zu dem Pokerface-Gehabe gehörte Verschwiegenheit über sein Privatleben oder gar über Gefühle. Doch jetzt als Bundeskanzler wird von ihm mehr erwartet. Und so hat er angefangen zu reden. Doch es wäre besser gewesen, er hätte geschwiegen.
Besser für die die politische Klasse, die er repräsentiert, besser für die SPD und vor allem besser für ihn, denn die Öffentlichkeit lernt nun einen Bundeskanzler kennen, der eine bildhafte Sprache gebraucht, die einem in ihrer Vulgarität Angst und Bange machen muss, ist sie doch Ausdruck rabulistischen Denkens.
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Auf seine Abqualifizierung des Marxschen Werks als "Quatsch" wurde an anderer Stelle bereits hingewiesen. Auf dem Festival der philosophischen Literatur, der Phil. Cologne im Juni 2023, bezog er sich bei der Antwort auf die Frage "Wo geht’s hier nach links?" auf Karl Marx: Dieser "habe 'mit seinen ganzen Sachen' am Ende nur 'Quatsch' hinterlassen, das unmögliche Ideal eines paradiesischen Lebens vollkommen freier Wahl unter den Mitteln der Bedürfnisbefriedigung".
Sein Schluss daraus: "Das darf uns auch nie wieder reinrutschen ins Denken." (Frankfurter Allgemeine Zeitung - FAZ vom 15. Juni 2023) Doch anders als Scholz mit seiner Verbalinjurie "Quatsch" zu behaupten versucht, gibt es für "den Marxismus" sehr wohl eine höhere Freiheit, da er die Individuen vor eine präzise Aufgabe stellt: die Herrschaft der gegebenen Bedingungen und des Zufalls durch die Herrschaft über den Zufall und damit über die Existenzbedingungen der Individuen zu ersetzen.
Einst Allgemeingut der Sozialdemokratie
Aus dieser Aufgabe erwächst die Möglichkeit der Freiheit selbst, indem sie die bewusste Erkenntnis konkreter Möglichkeiten einer anderen Organisation des gesellschaftlichen und politischen Lebens erfordert.
Es gab einmal eine Zeit, in der dieses Denken Allgemeingut der Sozialdemokratie war. Und als stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender sowie Mitarbeiter an den "Herforder Thesen. Zur Arbeit von Marxisten in der SPD" hatte Olaf Scholz einstmals Anteil an dem Versuch, den Marxismus in der SPD wiederzubeleben. Doch das ist alles lange her. Vom Marxismus hat er sich längst abgewendet.
Interessant ist allerdings zu erfahren, wie er diese Abwendung für sich beschreibt. In einem Hintergrundgespräch, das er mit der FAZ führte, gab er ihr einen geradezu dramatischen Charakter: "Von der kommunistischen Ideologie, die ihm in jungen Jahren das Hirn vernebelte, hat sich Scholz nach dem Zusammenbruch des Kommunismus getrennt. Er selbst spricht mitunter von einem Entgiftungsjahr, das er damals gebraucht habe." (So funktioniert Olaf Scholz, in FAZ vom 14. Juli 2023)
Als marxistischer Sozialdemokrat hat er mit Sicherheit keine "kommunistischen Ideologie" vertreten. Doch was hier interessiert, ist seine Kennzeichnung sozialistischen bzw. marxistischen Denkens als "Gift", das er ganz offensichtlich nur mühsam wieder loswerden konnte.
Sozialismus als "Gift"
Die Diffamierung vom Sozialismus als "Gift" für die Gesellschaft ist aber ein sattsam bekanntes Vorgehen der Reaktion im ideologischen Klassenkampf. Auch die Nazis machten von ihr regen Gebrauch – für sie war der Marxismus "Gift in einem an sich gesunden Volkskörper", das es auszuscheiden galt. Offensichtlich kennt der Bundeskanzler die historischen Bezüge dieser bösen Metapher nicht.
Wer all das bis dahin Angeführte nur für unbedachtes Daherreden sah, muss sich seit dem 18. August 2023 eines Besseren belehrt sehen. Denn am Nachmittag dieses Freitags rief Bundeskanzler Olaf Scholz auf dem Münchner Marienplatz bei einer Wahlkampfveranstaltung der SPD seinen Zuhörern zu: "Und die, die hier mit Friedenstauben herumlaufen, sind deshalb vielleicht gefallene Engel, die aus der Hölle kommen." Dies war die Antwort auf Kritiker seiner "Zeitenwende" und seiner bedingungslosen Unterstützung des ukrainischen Kriegsziels einer vollständigen Niederlage Russlands.
Selbst der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war das nun zu viel. Sie bezweifelte deshalb sogar Scholz Aussage, noch nie einen Joint geraucht zu haben: "Braucht man für solche Sätze keine Stimulanzien? (…) Da fragt sich der geneigte Cannabis-Kenner: Kann man ohne einen Zug am Joint so kreativ formulieren? Böse gefragt: War der Kanzler high wie die Hölle?"
Und die Berliner Zeitung fragte in einem Kommentar: "Wer bringt dem Kanzler Manieren bei?" Doch allzu viel Hoffnung, dass dies noch gelingen könnte, hat man in der Redaktion der Zeitung offensichtlich nicht. Und Scholz selbst kann "von Glück sagen, dass er vom Volk nicht allzu ernst genommen wird – denn sonst wäre ihm sein aktueller Lapsus längst um die Ohren geflogen."