Wenn Liebe zum Wahn wird

Stalking: Ein neuer Name für eine alte Krankheit

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Verrückt vor Liebe zu sein, ist mitunter ganz normal. In Gegensatz zu Wut, Hass, Neid, Eifersucht und anderen negativen Gefühlen kann man gar nicht zuviel Liebe empfinden. Wenn es denn echte Liebe ist – und nicht ihre narzisstische Schwester, das „Haben wollen“ eines vermeintlich geliebten Menschen. Liebeswahn, neudeutsch „Stalking“ genannt, gab es schon immer, doch im Zeitalter des „Ich will alles – und zwar sofort“ ist Stalking zum gesellschaftlichen Problem geworden.

Liebe heißt, Wärme auszustrahlen, ohne einander zu ersticken.
Liebe heißt, Feuer zu sein, ohne einander zu verbrennen.
Liebe heißt, einander nahe zu sein, ohne einander zu besitzen.
Liebe heißt, viel voneinander zu halten, ohne einander festzuhalten.
Phil Bosmans

„Wer liebt, muss auch loslassen können“. Doch das ist leichter gesagt, als getan. Die Hormone spielen mitunter nicht mit – und verletzte Gefühle sowie vermeintliche Besitzansprüche auf einen anderen Menschen können die schönste Sache der Welt in eine Katastrophe verwandeln, die sich bis zum Mord hochsteigern kann.

Stalking ist ein Verbrechen, das im Verborgenen blüht. Von der Öffentlichkeit wird es meist nur zur Kenntnis genommen, wenn Berühmtheiten betroffen sind. Und doch werden 18 Prozent aller Frauen und 5 Prozent aller Männer in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von Stalkern. Das heißt, sie werden längerfristig von einer Person – meist im „Liebeswahn“ – verfolgt, belästigt und teilweise auch bedroht.

Stalking: Wenn Liebe zum Wahn wird, Rasso Knoller, Schwarzkopf & Schwarzkopf Berlin, 250 Seiten, ISBN 3-89602-675-5, 9,90 Euro

Oft sind es die Ex-Partner, die es nicht verkraften können, zurückgewiesen bzw. verlassen zu werden. Hier sind oft Ehrverlust und Rache im Spiel, insbesondere wenn ein Partner den anderen besonders fies abserviert hat, also z.B. öffentlich in der Kneipe vor allen Bekannten mit ihm Schluss gemacht hat, kann dies selbst bei vernünftigen Menschen Stalking auslösen. Das Risiko, dass es zu einem Mord kommt, ist bei Ex-Partnern 25-mal höher als in anderen Stalking-Situationen, so Rasso Knoller in seinem gleichnamigen Buch. Neben bösartigen und rachsüchtigen Stalkern gibt es auch sozial inkompetente Stalker, die schlichtweg keine Übung im Umgang mit anderen Menschen und Liebe haben und denken, wenn sie ihren Wunschpartner nur lange genug bearbeiten, werde der ihre wahre Liebe schon erkennen, während dieser längst eindeutige „Hau ab“-Signale gesendet hat.

Stalker können aber auch flüchtige Bekannte oder völlig Fremde sein, und manches Opfer weiß über Jahre hinweg nicht, von wem es in Angst und Schrecken versetzt wird. Es kann eine Jugendliebe des Partners sein, die jener längst vergessen hat, die vielleicht nur in ihn verschossen war und die er damals gar nicht bemerkt hat. Oder eine Zufallsbekanntschaft, ein Sitznachbar im Flugzeug.

Es klingelt an der Tür. Nachts um elf und sicher schon zum zwanzigsten Mal an diesem Abend. Rainer K. zieht sich die Decke über den Kopf und versucht weiterzuschlafen. An die Tür geht er nicht, denn wer da wartet, weiß er ohnehin. Wie einige hunderttausend anderer Deutscher ist K. das Opfer eines Stalkers, eines Menschen, der andere aus scheinbarer „Liebe“ belästigt und bedroht.

K. war schon mehrmals bei der Polizei, um dort Anzeige wegen nächtlicher Ruhestörung oder Hausfriedensbruch zu erstatten. Das durfte er auch. Aber meist unter dem anzüglichen Lächeln der diensthabenden Polizeibeamten, die seine Aussage, Nacht für Nacht stehe eine Frau vor seiner Tür und verlange sturmklingelnd Einlass, mit der Bemerkung „das hätten wir auch gerne“ kommentierten. Erst als die Stalkerin in seine Wohnung einbrach und ihn bestahl, wurde die Polizei aktiv. Eine Anzeige wegen Wohnungseinbruchsdiebstahl war die Folge – das Verfahren wurde aber nie eröffnet und von der Staatsanwaltschaft wegen Geringfügigkeit eingestellt.

Nächtliche Störungen gehören noch zu den harmloseren Dingen. Oft werden Stalker aber auch gewalttätig. Gegen Sachgegenstände – die Wohnung oder das Auto des Opfers werden zerstört – aber auch gegen Menschen. Und dann gibt es keine Grenzen mehr. Das Spektrum der Gewalttaten reicht von Tritten und Schlägen bis zu schwerer Körperverletzung, Vergewaltigung und sogar Mord.

Die moderne Technik gibt auch Stalkern mehr Möglichkeiten, ihrem Opfer zur Last zu fallen, ohne tatsächlich ständig vor der Tür zu stehen. Neue E-Mail-Adressen oder ein im E-Mail-Programm eingerichteter Filter sind noch die leichteste Übung, solange es sich nur um private E-Mail-Adressen handelt – geschäftliche Adressen sind schwerer zu wechseln. Beim Telefon wird es lästiger und ein physischer Umzug ist sehr belastend. Und irgendwann verplappert sich doch einer der Eingeweihten, weil der Stalker sich als Polizei- oder Telekombeamter ausgibt oder umgekehrt selbst bei den Behörden Auskunft erlangt.

Der neue Begriff "Stalking" für dieses Phänomen kommt aus dem Englischen. Als "Stalker" bezeichnete die Polizei von Los Angeles ursprünglich Fans, die penetrant ihre angehimmelten Stars verfolgten. Doch nicht nur Prominente sind Opfer solcher besessenen unerwünschten Annäherungsversuche, jedermann kann betroffen sein: Der von Arbeitskollegen bewunderte Manager, die Sekretärin, selbst die Putzfrau.

Das niedersächsische Dorf Etelsen bei Bremen wurde vom Idyll zum Schauplatz eines Verbrechens (Bild: Norddeutscher Rundfunk/Lichtfilm/Wolfgang Bergmann)

Dabei können erotische Komponenten eine Rolle spielen, da sehr oft verschmähte oder vergangene Liebe im Spiel ist (Die dunkle Seite der Liebe), müssen aber nicht. Auch „nur“ rasende Eifersucht kann zum Mord im Affekt führen, der sich nicht hundertprozentig verhindern lässt – wenn dem Angriff jedoch monatelange Verfolgung vorausging, dann handelt es sich um Stalking, das rechtzeitig gestoppt werden muss. Zwar kommt es in Einzelfällen auch zu falschen Beschuldigungen, zu Leuten, die sich verfolgt fühlen, ohne dass es der Fall ist und zu Stalkern, die sich selbst als Opfer darstellen. Doch für echte Verfolgungsaktionen gibt es normalerweise auch Zeugen und nach einigen spektakulären Stalking-Morden ist die Polizei inzwischen etwas sensibler für das Thema geworden.

Ins Deutsche übersetzt wird "Stalking" am besten mit "Nachstellen". Wer gestalkt wird, sieht sich seinem Verfolger im Alltag überall ausgesetzt, am Telefon, im öffentlichen, aber auch im privaten Raum. Solche Belagerungen, die im Einzelnen harmlos aussehen mögen, wirken seelisch zermürbend. Im Arbeitsleben kann Mobbing in Stalking übergehen, das weiter anhält, auch wenn das Opfer längst das Unternehmen verlassen hat.

Es ist nicht immer verblühte Liebe…

Besonders gefährlich ist es, wenn der Stalker in einer besonderen Machtposition steht, also beispielsweise Polizist oder Rechtsanwalt ist: den Aussagen des Opfers wird dann meist kein Glauben geschenkt und der Täter kann sogar noch Judikative und/oder Exekutive zu Hilfe ziehen, um sein zerstörerisches Werk zu vollenden. Dabei ist ihm nicht einmal immer klar, dass er dem Objekt seiner Aktivitäten weh tut. Doch auch ganz normale Bürger können großen Schaden anrichten, selbst wenn es nicht zum Äußersten kommt: Stalking-Opfer sind oft noch jahrelang verstört.

Mit der wachsenden Zahl der Scheidungen steigt auch das Stalking von Ex-Partnern, das besonders unangenehm enden kann. Im englischen Sprachraum, beispielsweise in den USA, England und Australien, ist das Phänomen seit Jahrzehnten bekannt. Im Juni 2006 wurde in Deutschland nach einigen spektakulären Stalking-Fällen wie dem Mord im Dorf Etelsen bei Bremen ein Gesetz auf den Weg gebracht, das Stalker mit Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren bedroht. Bei Gefahr im Verzug können Stalker in Gewahrsam genommen werden. Damit trug der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung, dass Stalking für das Opfer tödlich enden kann. Früher musste es erst zu massiven, fortgesetzten Übergriffen kommen, damit die Polizei einschreiten konnte, was oftmals zu spät kam.

In Frankreich gibt es dagegen bislang kein Anti-Stalking-Gesetz. Der deutsch-französische TV-Sender Arte widmet dem Thema dennoch einen Abend mit drei kurzen Dokumentarfilmen sowie dem Spielfilm „Stalker“ von Andrej Tarkowskij am nächsten Tag, der aber nur vom Namen her zum Thema passt.

Nach Trennung Mord

Corinna und Michael lebten mit ihren beiden Kindern jahrelang als glückliche Familie in einem Dorf in Niedersachsen. Gemeinsam mit anderen jungen Eltern halfen sie sich gegenseitig bei der Betreuung der Kinder.

Nach 14 Jahren Ehe kommt es zur Trennung, weil Michael eine andere Frau kennen gelernt hat. Doch dann will er zurück, nur Corinna möchte nicht mehr. Michaels Verhalten wird immer zwanghafter, er lauert Corinna auf und beginnt mit Telefonterror. Im Laufe der Zeit nehmen die Nachstellungen zu. Die Nachbarn organisieren sich, verabreden Codewörter am Telefon, schauen regelmäßig bei Corinna vorbei, versuchen Schutz zu bieten. Acht Mal wird die Polizei alarmiert und nimmt Anzeigen auf, doch man hat nichts gegen ihn in der Hand.

Corinna M., das spätere Mordopfer (Bild: Norddeutscher Rundfunk/Lichtfilm/Wolfgang Bergmann)

Die Freundinnen aus der Nachbarschaft werden Zeuge von Szenen, in denen Corinna festgehalten, verschleppt und bedroht wird. Immer wieder wird Michael zum Einlenken gebracht, aber sein Fehlverhalten steigert sich weiter. Ein Aufenthalt in einem psychiatrischen Krankenhaus bringt keine Besserung. In Bremen geht ein Zeuge zur Polizei, der erfahren hat, dass Michael seine Frau töten will. Doch die Meldung wird nicht weitergeleitet. Die Vorfälle aus dem benachbarten Dorf in Niedersachsen sind den Bremern nicht bekannt. Ein Richter entscheidet „zum Wohle der Kinder“ gegen ein Kontaktverbot, doch der Besuch der Kinder beim Vater wird zum Horror; er droht ihnen sogar, mit ihnen im Auto gegen einen Baum zu fahren.

Am 7. März 2005 lauert Michael Corinna an ihrem Arbeitsplatz auf und sticht 16 Mal auf sie ein. Sie ist auf der Stelle tot, Michael wird wenige Stunden nach der Tat verhaftet. Die Kinder werden in Pflegefamilien untergebracht. Michael wird zu 13 Jahren Haft verurteilt. Ein Stalker gewesen zu sein, bestreitet er bis heute. Vor der Kamera sprechen zum ersten Mal die Angehörigen und Freunde aus dem niedersächsischen Dorf Etelsen, die monatelang darum gekämpft haben, das Schlimmste zu verhindern und doch scheiterten. Und die Frage steht im Raum: Wieso gab es keine Möglichkeit, den Täter zu stoppen?

Was tun gegen Stalker?

In Deutschland haben etwa zwölf Prozent aller Bürger einmal im Leben Stalking erfahren. Wie kann man sich dagegen schützen? Welche Erfahrungen haben Experten und Betroffene aus Deutschland und Frankreich mit Selbsthilfegruppen, Hilfsorganisationen, Polizei und Justiz?

Die Kinderkrankenschwester Angelika aus Berlin muss sich gegen einen Mann wehren, den sie im Internet kennen gelernt hat. Nach einer kurzen Romanze kommt es zur Trennung. Fortan verfolgt und belästigt der Mann sie, zudem hat er Nacktfotos von ihr ins Internet gestellt, die sie nicht löschen kann. Eine Mitarbeiterin des Weißen Rings vermittelt Kontakte zu Anwälten und zu einer Psychologin, die Polizei nimmt die Ermittlungen auf.

Experte zum Thema Stalking: Der Mannheimer Wissenschaftler Prof. Dr. Harald Dressing (Bild: Norddeutscher Rundfunk/Lichtfilm/Wolfgang Bergmann)

In der Nähe von Paris berichtet Marie-Hélène, wie sie sich ein Jahr von ihrem Mann versteckt hielt und mit der Hilfsorganisation AJC (Association AJC - contre la violence morale dans la vie privée) lernt, dass nicht sie die Verrückte ist, sondern der Täter. Marie-Hélène schildert, wie sie sich Stück für Stück befreien konnte.

Fast 80 Prozent aller Stalkingfälle treten nach Trennungen auf, der überwiegende Teil der Täter ist nach allgemeiner Ansicht männlich. Allerdings ergaben anonyme Befragungen im Internet andere Werte: 41 Prozent der sich dazu bekennenden Stalker sind weiblich, so die Stalking-Studie von Dressing und Gass. Werden dagegen die Opfer gefragt, überwiegen die Frauen schon deshalb deutlich, weil sich kein Mann gerne freiwillig als Opfer darstellt, so die Vermutung von Rasso Knoller in seinem Buch.

Websites zum Thema Stalking

www.stalkingforschung.de: Arbeitsgruppe Stalking der TU Darmstadt
www.bmj.bund.de/enid/nj.html: Stalkinginfoseite des Bundesjustizministeriums
www.stalkingforum.de: Forum für Stalkingopfer und Angehörige
www.webstalking.de: Diskussionsforum für Stalkingopfer
www.antistalking.com, www.stalkingvictims.com: Amerikanische Websites zum Thema

Es gibt jedoch auch andere Konstellationen. Brigitte aus Berlin wird seit mehr als zehn Jahren von einer ehemaligen Kollegin verfolgt. 20 Prozent der Stalker lassen von ihrem Opfer auch nach klaren Worten nicht ab, sie leben bereits zu sehr in ihrer eigenen Welt und sehen in allem, was ihr Opfer sagt und tut, geheime Zeichen, dass es sie ja eigentlich doch liebt.

Prof. Dr. Harald Dressing vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim gibt im Dokumentarfilm Einblicke in den aktuellen Forschungsstand und die Pariser Psychoanalytikerin und Bestsellerautorin Marie-France Hirigoyen berichtet von ihren Erfahrungen mit Tätern und Betroffenen. Doch Stalker werden ähnlich wie Borderliner ungern therapiert, da sie dazu neigen, dann auch ihre Therapeuten zu stalken, so Rasso Knoller.

Mordfall John Lennon

Nach der Auflösung der Beatles lebt John Lennon ab 1971 in New York. Er arbeitet als Solist und zusammen mit seiner zweiten Frau Yoko Ono. Mit kritischen Songs für den Frieden macht sich der Star bei den Behörden unbeliebt. 1975, nach der Geburt seines Sohnes, verschwindet John Lennon für fünf Jahre völlig aus der Öffentlichkeit. Kurz vor seinem gewaltsamen Tod schafft Lennon mit dem Album "Double Fantasy" sein Comeback.

Im Oktober 1980 stößt der 25-jährige Mark Chapman in Honolulu auf eine Lennon-Biografie. Er ist verärgert darüber, dass der Popstar Liebe und Frieden predigt, aber Millionen von Dollar besitzt und einst sagte, die Beatles seien bekannter als Jesus, während Chapman auch gerne reich und berühmt wäre, aber ein Niemand ist. Chapman beschließt, Lennon zu töten. Von da an ist er kein Niemand mehr: Er ist nun einer der berühmtesten Mörder der Welt. Die ersehnte Anerkennung bringt ihm dies jedoch nicht.

Mit Chapmans tödlichem Attentat auf John Lennon ändert sich das Leben der Prominenten. Mehr und mehr "Stalker" stellen in der irrigen Illusion einer Vertrautheit den Berühmten nach. In Tonbandinterviews aus dem Gefängnis spricht Mark Chapman über die Gründe seiner Tat. Psychologen und Vertraute Chapmans erläutern seine Motive. Lennons enger Vertrauter Frederic Seaman gibt Einblicke in das Innenleben des Stars, der einst selbst berühmt werden wollte und durch seinen gewaltsamen Tod endgültig zur Pop-Ikone unserer Zeit wurde.

Arte TV Themenabend „Stalking – Wenn Liebe Wahn wird“

Nach Trennung Mord, Dokumentation, Regie: Kai Christiansen, Deutschland 2006, 43 Minuten. Erstausstrahlung Arte TV, Dienstag, den 17. Oktober 2006, 20.40 Uhr, Wiederholung: Mittwoch, den 18. Oktober 2006 um 15.10 Uhr

Was tun gegen Stalker?, Dokumentation, Regie: Kai Christiansen, Deutschland 2006, 20 Minuten. Erstausstrahlung Arte TV, Dienstag, den 18. April 2006, 21.25 Uhr, Wiederholung: Mittwoch, den 18. Oktober 2006 um 15.55 Uhr

Mordfall: John Lennon, Das Idol und sein Attentäter, Dokumentation, Regie: Egon Koch, Friedrich Scherer, Deutschland 2005, 52 Minuten. Arte TV, Dienstag, den 18. April 2006, 21.45 Uhr, Wiederholung: Mittwoch, den 18. Oktober 2006 um 16.14 Uhr