Wenn das Auto noch nicht fertig ist
Als Tourist in digitalen Städten III
Zu den Höhepunkten im Leben älterer Fahrer eines Automobils mit Stern auf dem Kühlergrill gehörte seit dreißig Jahren der Besuch im Sindelfinger Werk mit Abholung des eigenen Neufahrzeugs. Anschließend waren die Autobahnen gen Norden und Osten mit schleichenden Rotkennzeichen verstopft, weil man die Integrität des teuren Gefährts nicht gleich bei der ersten Fahrt riskieren mochte. Auf dieses Zeremoniell schauten die Hersteller anderer Fahrzeuge mit wachsendem Unmut und steigendem Neid. Alsbald sannen sie darauf, eigene Angebote ähnlicher Attraktivität hervorzuholen. Denn offensichtlich ist die emotionale Bindung zu diesen rituell initialisierten Automobilen enger als zu den Fahrzeugen, die Einem ein Händler auf den Hof stellt.
Volkswagen ging gleich zwei Schritte auf dem DaimlerChrysler-Weg weiter: Zum Einen wird in Dresden eine gläserne Fabrik geplant, in der Luxuslimousinen gleich vor aller Augen montiert und vom Band gefahren werden. Die Kunden sehen nach Botticelli-Manier die Geburt ihrer fahrenden Venus in jenem engelsgleichen Zustand, der ebenso jungfräulich wie vollkommen ist. Die gläserne Muschel spuckt demnach blecherne Perlen aus - und das vor aller Augen.
Der andere Schritt markiert die volkstümliche, also namennahe Variante: Das Autoabholen im Themenpark. Und der heißt nun einmal Autostadt und wird virtuell im Netz unter www.autostadt.de feilgeboten. Das Eröffnungsbild mischt den martialischen Wolf der realen Produktionsstadt mit einer schwer überschaubaren Vielfeldergrafik, aber es lädt schnell und verweist mit einer kleinen Leiste auf einige weitere Angebote.
Leider wird das folgende Klicken zur ermüdenden Wanderung durch die Niederungen deutscher Werbelyrik. Gestelzte Texte in weißer Höhung auf gelbgrünblau flimmerndem Grund, in ein allzu enges Kästchen gesetzt, das unten rechts auf der großen Grundfläche kauert - das ist keine Einladung zum Verbleib. Aber mit ein wenig Geduld und Klicken auf den richtigen Schalter "vor Ort" (die Agentur kommt wohl aus dem Kohlenpott) wird der eigentliche Schauplatz des Geschehens erreicht. Es empfiehlt sich, zunächst den Lageplan des Erlebnisparks Autostadt Wolfsburg zu inspizieren, um die Bewegung im dreidimensionalen Modell besser zu verstehen [Abb.2]. Deutlich wird, dass das Erlebnis Autoabholung in Wolfsburg völlig anders interpretiert wird als im Schwabenlande: Wichtigster Teil des Parks ist das Hotel, Teil einer Kette von generell hohem Erlebniswert mit filmischer Geschichte. Man soll also nach Wolfsburg kommen, dort einen oder zwei Ferientage verbringen und nebenbei auch sein Auto einsammeln. Das ist mit den sparsamen Schwaben so nicht zu machen.
Nun gut, es geht um Wolfsburg und die virtuelle Autostadt. Die Reise kann beginnen, wenn ein VRML-Player installiert ist. Das Installieren wird erfreulich einfach gemacht, klappt auch gut, und selbst das Laden der eigentlichen Bilddateien geht zügig vonstatten. Warum, wird schnell klar: Das Bildchen ist so klein wie zuvor die Kiste mit den Texten, und kein Klicken vermochte es zu einer brauchbaren Größe hinauf zu heben. Auf meinem Bildschirm war die Ansicht obendrein recht finster.
Gut gemacht an der virtuellen Reise ist ihr Ausgangspunkt; man startet vor dem Firmentor (von einem Werk ist nur noch im Titel des Hauses die Rede). Das muss auch gar nicht geöffnet, sondern durchflogen werden (ob die das auch mit den richtigen Autos so machen wollen?), und dann kann man sich nach Herzenslust frei im Park herumbewegen, dass es eine Lust ist. Die Animation läuft recht flott, die Gebäude sind gut erkennbar, wenn man etwas über Bodenhöhe fliegt. Hier gibt es ein kleines Problem mit den Fingerspitzen: Wer die Höhe des Gleitflugs durch die Anlage verändern möchte, produziert meist Loopings und Bruchlandungen - also: gaaaanz vorsichtig auf die Control-Taste und noch vorsichtiger das Höhenruder der Software bewegen, dann klappt es mit der Übersicht. Die Programmierer waren wohl noch im zarten Gymnasiastenalter mit entsprechender Spielroutine.
Das Autostädtchen enthält jenes besagte Hotel, zwei Türme, in denen die Autos zur Abholung bereitstehen, für jede der von VW vertriebenen Marken ein Ausstellungsgebäude, ein Kundenzentrum als Verkaufshalle sowie das Konzernforum, das nach Informationen aus zuverlässiger Quelle eine Halle mit Restaurants, Cafés und einer Bühne ist. Während der virtuellen Fahrt kann man sich auf die Schönheit der Computerformen konzentrieren; von Informationen wird man nicht gestört. Wer wissen will, um welches Gebäude gerade gekurvt wird, muss zwischendrin den Lageplan aufrufen, der die Bauten verzeichnet. Das ist lästig und führt gemeinsam mit dem kleinen Bildchen zur relativ schnellen Ermüdung, was wiederum schade ist, denn das Rendering der ganzen Anlage scheint eigentlich recht gut gelungen.
Die hohe Qualität der animierten Darstellung hat einen einfachen Grund: Die virtuelle Autostadt existiert schon eine Weile als Videoband, das von VW auf Messen, Ausstellungen und Festivals gezeigt wird. Die Übersetzung von einem Medium ins Andere erzeugt selbstverständlich auch Verluste. Doch hier überwiegt der positive Blick, denn das Video war von seinen Kamerafahrten, seiner überzogenen Dramatik, vor allem vom Sprecher und seinen Texten her eher unfreiwillig erheiternd. Die Möglichkeit, sich selbst in einem virtuellen Gelände umzusehen und dabei Einiges an Informationen abzurufen, ist prinzipiell bestechend. Doch noch ist die Autostadt ein klitzekleiner Freizeitpark - eigentlich unverständlich, denn VW hätte mit dieser Website die ungeahnte Möglichkeit, sich positiv von den Konkurrenten abzusetzen, die teilweise selbst über preisgekrönte Angebote im Netz verfügen. Aber noch ist die Autostadt nicht fertig. Vielleicht wird sie ja noch so toll wie das neue eigene Auto, das man in ihr abholen soll.
Ankunft in der Gegenwart
Inzwischen ist die reale Autostadt im zeitlichen Kontext der Expo 2000 huschhuschhusch eröffnet worden, und ebenso schnell verschwand die virtuelle Stadt ins digitale Nirvana. Stattdessen bietet die Agentur Scholz & Volkmer aus Wiesbaden statt des mit einem bronzenen Cyber-Löwen gefeierten Web-Angebots - die Aussagen stammen von der Agentur selbst - nur noch mehr Werbetexte und viele klitzekleine Photographien. Wer sich in die Autostadt einwählt, kommt maximal auf einen dunklen Stadtplan und erhält bei passendem Klick eine ochsenblutrote Einfärbung des passenden Grundriss-Stücks, daneben wieder Text, klitzeklein in weiß auf dunkelblauem Grund, nahezu unlesbar in Sprache und Design.
Über die Gründe des Sinneswandels kann nur spekuliert werden: Wahrscheinlich ist die Autostadt ein ähnlicher Flop wie die Expo - zwar kommen viele BesucherInnen, und das Hotel ist mit dem Umsatz so zufrieden wie die Pavillons von Bentley und Lamborghini, weil deren Autos ohnehin keine/r kaufen kann. Doch diejenigen, die auf dem Rückweg von der Expo gleich ihren VW, Skoda oder Seat im Werk abholen sollten, sind wohl ausgeblieben. Und denen war die digitale Stadt gewidmet - wie es schon bei Lenin so schön heißt: "Die meisten Menschen sind Anachronisten ihres Zeitalters."
Die Serie 'Als Tourist in digitalen Städten' erschien zuerst in der db. (deutsche bauzeitung) und wurde für 'Telepolis' überarbeitet.