Wenn die Mafia Rechtsstaat spielt...

Offizieller Rückzieher nach Massendemonstration im Sumpf des mexikanischen Vorwahlkampfs – politische Krise scheint vorerst überstanden

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Mexiko hat scheinbar soeben die schwerste politische Krise seit 1994 überstanden. Nach einer Massendemonstration von über einer Million Menschen am 24. April hat Manuel López Obrador, Bürgermeister von Mexiko-City und Präsidentschaftskandidat in spe, seine Amtsgeschäfte wieder aufgenommen. Vier Tage später kündigte der amtierende Präsident Fox an, dass alle juristischen Verfahren gegen den ungeliebten Rivalen eingestellt werden und er seinen Generalstaatsanwalt entlässt.

Noch vor zwei Wochen war das ganze Land in Aufruhr. Überall Demonstrationen, direkt vor dem Amtssitz des Präsidenten ein Hungerstreik von Abgeordneten der Partei der Demokratischen Revolution, PRD. "Jetzt müssen wir zu den Waffen greifen, eine andere Möglichkeit bleibt uns nicht mehr", kommentierte eine mexikanische Pädagogin das politische Geschehen. Am 26. April trat im benachbarten Kuba sogar Fidel Castro vor die Fernsehkameras und empfahl dem mexikanischen Präsidenten:

Entweder man fordert Luftlandetruppen für ihn an oder er geht in Frührente. Das könnte eine Lösung sein. Es gibt keine Verfassungsklausel, die irgendeinem Bürger verbieten würde, von seinem Amt zurückzutreten. Das ist der bessere Ausweg, bevor es zur Spaltung, zu Gewalt kommt.

Dass die Zeichen in Mexiko auf Sturm standen, machte auch eine schon einige Wochen zuvor durch Subcomandante Marcos von der zapatistischen Guerilla EZLN veröffentlichte Stellungnahme deutlich:

Das Verfahren zur Immunitätsaufhebung gegen den Bürgermeister von Mexiko-Stadt, Manuel López Obrador, würde, falls es durchgeführt wird, unser Land im Kalender der Geschichte um fast ein Jahrhundert zurückwerfen. Genauer gesagt, er würde es ins Jahr 1910 zurückversetzen. Es würde faktisch bedeuten, dass der Weg an die Macht über Wahlen ausgehebelt wird. Einfach so. Der Präsident tritt die mexikanische Geschichte mit Füßen und benutzt die Judikative, als sei sie sein Privatbesitz - während die politische Klasse in ihren kleinlichen Aufrechnungen verfangen bleibt, ob das peinliche Bild, das sie abgibt, sich am Ende auch bezahlt machen wird. Der Prozess zur Immunitätsaufhebung ist nicht nur illegitim, sondern auch illegal.

Der mit dem bürokratischen Wortungetüm "Immunitatsaufhebungsverfahren" bezeichnete Vorgang war im Grunde nichts anderes als ein plumpes Foul auf dem politischen Spielfeld: Manuel López Obrador, derzeit Bürgermeister von Mexiko-City, hatte mit Abstand die besten Umfrageergebnisse für die im Juli 2006 anstehenden Präsidentschaftswahlen. Und eine Allianz aus der alten PRI-Kamarilla (den Strukturen der langjährigen Regierungspartei) und der neuen alten Rechten von der jetzt regierenden PAN (Partei Nationale Aktion) wollte ihn vorsichtshalber schon mal vorab aus dem Rennen werfen (Rückschlag für Demokratie in Mexiko).

Der Welt ein "Beispiel an Legalität" gegeben

Zu diesem Zweck forderte der Generalbundesanwalt die mexikanischen Parlamentsabgeordneten auf, dem missliebigen Rivalen die parlamentarische Immunität zu entziehen – damit ihm der Prozess gemacht werden könne und er rechtzeitig in Haft käme. Allerdings war die Straftat, die dem Hauptstadtbürgermeister vorgeworfen wurde, ganz offensichtlich eine aus politischen Gründen konstruierte Lappalie: Er solle beim Bau der Zufahrt zu einem Krankenhaus eine Baustopp-Gerichtsentscheidung missachtet haben – obwohl diese Strasse bis heute gar nicht existiert. Im selben Zeitraum wurde einem PRI-Abgeordneten, der Gelder in Millionenhöhe von der staatlichen Erdölgesellschaft abgezweigt haben soll, die Immunität nicht aberkannt – was die Glaubwürdigkeit des anderen Verfahrens noch weiter unterminierte.

Am 7. April stimmten die Abgeordneten von PRI und PAN dennoch geschlossen gegen die Immunität von López Obrador, folgten damit dem Wunsch der Exekutive und gaben den strafrechtlichen Weg frei. Präsident Fox, der sich zum Papstbegräbnis in Rom aufhielt, ließ daraufhin ungerührt verlauten, Mexiko habe mit diesem Akt "der ganzen Welt ein Beispiel an Legalität, Macht des Gesetzes und Stärke der Institutionen" gegeben.

"Die mexikanische Demokratie totalisieren"

Womit der Präsident offensichtlich nicht gerechnet hatte, war, dass die Bevölkerung trotz seiner schönen Worte das Manöver gegen López Obrador durchschauen und ihrem Zorn darüber Ausdruck verleihen würde, dass wieder einmal ihre Hoffnung auf demokratische, saubere Wahlen betrogen werden sollte.

Am 24. April fand mit weit über einer Million Menschen in Mexiko-City eine der größten Demonstrationen der mexikanischen Geschichte statt, und die größte der derzeitigen Protestwelle, die die Medien wochenlang in Atem hielt. Vier Tage später knickte der Präsident ein und pfiff seinen Generalstaatsanwalt nicht nur in der Sache zurück, sondern auch aus dem Amt.

Er wolle "im Rahmen des Gesetzes die größtmögliche politische Harmonie wahren", so Fox. Das sei eine "Staatsentscheidung gewesen, um die mexikanische Demokratie zu garantieren, zu stärken, zu totalisieren", verkündete der Präsident einige Tage später.

"Die linke Hand der Rechten"

Hintergrund des "Fouls" gegen López Obrador ist, dass derzeit in Mexiko die Privatisierung des einträglichsten Industriezweigs, des Erdöls, und der landesweiten Stromversorgung auf der politischen Tagesordnung stehen. Zwei Bastionen, die sich bislang der neoliberalen Strukturanpassung noch widersetzen konnten – schließlich war die Ölindustrie kurz nach der Revolution im Jahr 1938 verstaatlicht worden und bisher unangetastet geblieben, weil dieses nationale Eigentum noch bis vor kurzem offiziell als verfassungsrechtlich geschützte Errungenschaft eben jener Revolution galt. Und die Stromgewerkschaft SME gehört zu den kämpferischsten des Landes.

Wer die Präsidentschaftswahlen von 2006 gewinnt, wird sich bei diesen geplanten Veräußerungen Provisionen historischen Ausmaßes in die Tasche schieben können – da sie in der jetzigen Amtszeit nicht mehr durchsetzbar sein werden. Das macht diese Wahl besonders umkämpft, und hat dazu geführt, dass in Mexiko im Grunde seit Frühjahr 2004 hinter den Kulissen Wahlkampf betrieben wird.

Während die einen also dieses Spiel mitspielten, um den Kandidaten in spe Manuel López Obrador zu stärken oder seine Partei PRD, ging es für viele Mexikaner aus der Unterschicht aber ganz grundsätzlich um das Prinzip Demokratie, das ihnen so lange vorenthalten wurde.

Unsere Position zu López Obrador und der PRD ist bekannt: Sie sind nicht mehr als die linke Hand der Rechten (oder nicht einmal das). Aber hier geht es nicht um politische Sympathien oder zynische Rechnungen vom "geringeren Übel". Nein. Wie immer handelt es sich für uns um ein ethisches Problem. [...] Wir Zapatisten sind nicht nur gegen die Immunitätsaufhebung, sei sie juristisch oder mediengelenkt, weil sie die Möglichkeiten eines Mannes oder eine Frau, auf friedlichem Weg an die Macht zu gelangen, vernichtet. Wir rufen auch alle auf, gegen diese Ungerechtigkeit zu demonstrieren, zu ihrer Zeit, an ihrem Ort und auf ihre Weise. Mehr noch, ich kann Dir schon mal verraten, dass wir hier die – friedfertigen - Formen diskutieren, mit denen wir selbst unseren Widerstand gegen den Staatsstreich zum Ausdruck bringen würden.

Subcomandante Marcos

Vicente Fox war der Hoffnungsträger der Demokratie nach westlichem Modell in Mexiko, als er 2000 nach zähen einundsiebzig Jahren Einparteienherrschaft als Oppositionskandidaten die Präsidentschaftswahlen gewann. Nach knapp fünf Jahren an der Macht nun schämen sich viele Mexikaner für ihren Landesvater, der es im Unterschied zu seinen Vorgängern nicht einmal vermag, die Fassade demokratischer Spielregeln zu wahren.

Eine Woche, nachdem er seinen Generalstaatsanwalt geschasst hat, erklärt der Präsident die Sache nur für völlig erledigt und vergessen, und lobt sich selbst für sein Eingreifen zur Verteidigung eines sauberen Wahlverfahrens im nächsten Jahr. Manuel López Obrador, der künftige Präsidentschaftskandidat der PRD und seit zwei Wochen wieder amtierender Hauptstadt-Bürgermeister, geht aus diesem Skandal als strahlender Sieger hervor: Er personifiziert jetzt geradezu die Demokratie in Mexiko und hat den Komplott, den Exekutive, Legislative und Judikative unter der Anleitung von PRI und PAN gegen ihn gestrickt hatten, gestärkt überstanden.

Letztlich gehen aber auch diejenigen, die ethisch-politische Grundsätze und radikaldemokratische Forderungen anstatt eines bestimmten Kandidaten verteidigen wollten, aus der Krise als Verlierer hervor. Denn ihre Stimme wird nun bis zu den Wahlen im Juli 2006 im Wahlkampflärm untergehen – und ob der Sozialdemokrat López Obrador als künftiger Präsident nicht bloß effizienter privatisiert als die Konservativen, muss sich noch erweisen.