Wenn ein Terroranschlag nicht aufgeklärt werden soll

Seite 2: Zwei Personen im LKW?

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Ein anwesendes Opfer des Anschlages erfuhr den Zeugenauftritt des Vertreters des Staates noch dramatischer. Der Mann entging dem LKW nur ganz knapp, wurde verletzt, leistete noch Erste Hilfe und musste erleben, wie Menschen starben. Er hatte für den Bruchteil einer Sekunde im Führerhaus des auf ihn zufahrenden Lastwagens zwei Männer wahrgenommen. Der Beifahrer griff dem Fahrer ins Lenkrad und sorgte so dafür, dass das Fahrzeug nach links aus dem Markt hinausfuhr.

Er ist nicht der einzige, der zwei Personen im LKW wahrgenommen hat. Als ein Ausschussmitglied (Klaus-Dieter Gröhler, CDU) die Frage nach diesen Beobachtungen stellte, qualifizierte der Vertreter der Bundesanwaltschaft die Zeugen und ihre Wahrnehmungen ab. Die Ermittler hätten nichts gefunden, wer diese zweite Person gewesen sein könnte. Er gehe davon aus, dass sich die Zeugen "geirrt" oder "die Leiche des Speditionsfahrers" gesehen haben. Zeugen seien das schlechteste Beweismittel, sie seien in einer emotionalen Ausnahmesituation und schmissen Dinge durcheinander.

Das war für den Betroffenen so unerträglich, dass er für einige Zeit den Saal verließ. Hintergrund der Differenz ist die Version der Bundesanwaltschaft vom Tathergang. Für sie wurde der Speditionsfahrer beim Kapern des LKW getötet. Die Beobachtungen der Zeugen, die einen zweiten Mann sahen, möglicherweise den Speditionsfahrer, der folglich erst nach dem Anschlag erschossen wurde, stellen die offizielle Version in Frage. Und das darf offensichtlich nicht sein.

Die Causa Ben Ammar ist ein Schlüsselfall schließlich auch deshalb, weil daran die Theorie vom "Einzeltäter Amri" hängt. Ein Mittäter, Helfer oder Mitwisser würde sie widerlegen.

Kein Haftbefehl

Zu den Schlüsselereignissen der Anschlagsvorgeschichte gehört jener gewalttätige Angriff von vier arabischen und islamistischen Drogenhändlern, darunter Amri, auf drei andere Dealer am 11. Juli 2016 in einer Nachtbar in Berlin-Neukölln. Dabei kamen Waffen wie Messer und Gummihammer zum Einsatz. Die Tat war mindestens als "gemeinschaftliche schwere Körperverletzung" zu werten, wenn nicht sogar als "versuchtes Tötungsdelikt". Sie musste zwingend Haftbefehle nach sich ziehen.

In der Folge der Tat kam es am 18. August 2016 zu einer Besprechung von fünf Staatsschutzbeamten des Landeskriminalamtes (LKA) Berlin mit dem stellvertretenden Leiter der Generalstaatsanwaltschaft in Berlin, Dirk Feuerberg. Dabei ging es um die Person Anis Amri. Das LKA beobachtete ihn, weil er a) als islamistischer Gefährder galt, b) Mitglied einer professionellen Drogenbande war und c) nun Mittäter bei einer Messerstecherei. Mehrere LKA-Beamte hatten bereits vor dem Amri-Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses von Berlin zu diesem Vorgang ausgesagt, Tenor: Sie wollten einen Haftbefehl gegen den Tunesier, doch der Leitende Oberstaatsanwalt Feuerberg habe das abgelehnt.

Der war jetzt erstmals als Zeuge vor einem der insgesamt drei parlamentarischen Amri-Untersuchungsausschüsse geladen - und bestätigte die Auskünfte der LKA-Zeugen: Ja, er habe entschieden, keinen Haftbefehl zu beantragen. Amri sei kein eigener Tatbeitrag nachzuweisen gewesen. Es sei unklar, wer welche Waffe geführt habe.

Bei der späteren Verurteilung eines der Mittäter im Sommer 2017 spielte das freilich keine Rolle, denn die Tat war ja "gemeinschaftlich" begangen worden. Außerdem hatte sich Amri selbst belastet. In einem abgehörten Telefonat mit seiner Mutter in Tunesien sagte er einige Tage später, er müsse Deutschland verlassen, weil er zusammen mit einem Freund einen anderen fast erschlagen habe.

Der Auftritt des Leitenden Oberstaatsanwaltes Dirk Feuerberg offenbarte ebenfalls weniger einen korrekten Strafverfolger als einen politischen Beamten, der offensichtlich bestimmten staatlichen Interessen folgt.

Verweis auf Flüchtlingskrise

Das hatte Feuerberg schon vor Jahren im NSU-Komplex bewiesen, als er 2012 als Sonderermittler des Innensenators dessen Rolle in der lange geheim gehaltenen Affäre um den V-Mann Thomas St., der zum NSU-Umfeld zu zählen war, entlastete. Und das machte der Vize-Generalstaatsanwalt jetzt im Amri-Komplex in seinem etwa einstündigen Eingangsstatement direkt wieder deutlich.

Zunächst drückte er sein Bedauern aus, dass der Anschlag nicht verhindert werden konnte. Dann stellte er das Ereignis in einen Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise jener Jahre. Es habe unter den Flüchtlingen ein "großes Reservoir perspektivloser, unterbeschäftigter Menschen" gegeben mit einer bestimmten Anzahl, die einen Anschlag begehen wollten.

Eine solche Darstellung diente auch seiner Selbstentlastung. Der Anschlag hatte mit der Flüchtlingsbewegung nichts zu tun. Die Gewaltbereiten, in deren Kreisen sich Amri bewegte, waren nicht etwa als hilfesuchende Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, sondern waren Überzeugungstäter, darunter auch deutsche Staatsbürger. Dass Amri nicht festgenommen und aus dem Verkehr gezogen wurde, hatte unter anderem ganz wesentlich Herr Feuerberg selber zu verantworten.

Er griff im Verlauf seiner Vernehmung auch auf die bekannten, aber längst widerlegten Entschuldigungsargumente zurück, Amri sei, weil als Drogenhändler unterwegs, als möglicher Terror-Gefährder unterschätzt worden. Und er verwendete für seine Rechtfertigung gar die von LKA-Beamten nach dem Anschlag konstruierten Aktenfälschungen, Amri sei nur ein "kleiner Dealer" gewesen, den man schon mal übersehen konnte. Tatsächlich hatte die Polizei festgestellt gehabt, dass Amri "gewerblich und bandenmäßig" dealte. Feuerberg sprach nun erneut von "Btm-Handel mit kleinen Mengen", so als sei das nicht längst als Manipulation entlarvt.

Dabei hantierte er selber mit einer weiteren Manipulation: Amri und seine Komplizen hätten "untereinander" mit Drogen gehandelt, damit sei das Tun "nicht bandenmäßig" gewesen, so Feuerberg.

Ähnlich seinem Staatsanwaltskollegen Grauer im Falle Ben Ammar erklärte Feuerberg im Falle Amri, es sei relativ schnell klar gewesen, dass sich "die Verdachtslage nicht erhärtete".

Als weiterer Schlüsselfall des Komplexes kristallisiert sich immer mehr die versuchte und verhinderte Ausreise Amris Ende Juli 2016 heraus. Die Aktion ist bis heute nicht aufgeklärt.

Amris Asylantrag war abgelehnt, er war ausreisepflichtig. Er hatte erfahren, dass er wegen der Messerstecherei gesucht werde, wodurch ist unklar. In dem Telefonat mit seiner Mutter erklärte er, Deutschland zu verlassen. Seine Fahrt im Fernbus Richtung Süden verfolgten die Fahnder in Berlin live per Telefonüberwachung mit. Ein Zeichen, wie eng sie an dem Gesuchten dran waren und wie ernst sie ihn nahmen. In Friedrichhafen wurde Amri aus dem Bus geholt. Die Polizei fand gefälschte Papiere und nahm ihn fest. Doch dann wurde er wieder entlassen und kehrte nach Berlin zurück.

Welche Stellen alles in die Aktion involviert waren und wer welche Entscheidung getroffen hat, ist bislang undurchsichtig. Auch Oberstaatsanwalt Feuerberg konnte nicht erklären, warum man Amri nicht ausreisen ließ. Er wisse es nicht, nehme aber an, dass er nicht unkontrolliert ausreisen sollte. Für die Haftentlassung schob er den schwarzen Peter der entsprechenden Staatsanwaltschaft in Baden-Württemberg zu. Die habe keine Grundlage für einen Haftbefehl gegen den Ausreisewilligen gesehen.

In Berlin fand dann wieder einige Tage später Mitte August 2016 eben jene spezielle Besprechung von LKA und dem Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft, Dirk Feuerberg, über den Kandidaten Amri statt, die rätselhafter Weise zu keinerlei Konsequenzen führte. Oder solchen, die bis heute nicht bekannt sind.

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