Wer erschoss Carlo Giuliani?
Staatsanwaltschaft, Polizei und Carabinieri verstricken sich immer tiefer in Widersprüche
Heute jährt sich erstmals der Todestag von Carlo Giuliani, dem jungen Demonstranten, der während der Proteste gegen den G8-Gipfel in Genua mit einem Kopfschuss von einem Carabinieri getötet wurde. Das Verfahren um seinen Tod schleppt sich seit einem Jahr dahin. Vom Gericht, das wurde bisher deutlich, ist kaum Aufklärung zu erwarten. Die Ungereimtheiten rund um den Fall nehmen stetig zu.
Während der Schütze Carabinieri Placanica behauptet, Demonstranten hätten ihn am Fuß gepackt und versucht, aus dem Jeep zu ziehen, wird an den zahlreichen Video-Aufnahmen aus verschiedensten Perspektiven deutlich, dass dies nie der Fall war. Zu beobachten ist auch, dass die Carabinieri aus dem Jeep die vermeintlichen Angreifer kurz vor Benutzung der Schusswaffen aus dem Wageninnern mit Reizgas voll sprühten, erst als sich diese bereits vom Jeep entfernt hatten, wurde geschossen.
Auf diversen Fotos und Videoaufnahmen ist auch zu erkennen wie der Schütze aus dem Innern des Carabinieri-Jeeps bereits einige Zeit bevor Carlo Giuliani den Feuerlöscher (gegen den sich der Schütze angeblich verteidigt haben will) aufhebt, die Pistole durchlädt und auf die Demonstranten richtet. Unter Rufen wie "Ich leg' euch alle um ihr Kommunistenschweine" zielte der Schütze über zwei Minuten lang auf verschiedene Personen. Dann schoss er auf den etwa 3,5 m entfernt stehenden Carlo Giuliani, der keine Anstalten machte sich dem Jeep zu nähern.
Ungeklärt auch nach wie vor die Frage wie viele Schüsse von wem abgegeben wurden. Die offizielle Version lautet bisher, dass zwei Schüsse abgegeben wurden, ein erster in die Luft und ein zweiter ungezielt auf die Menge, der dann "tragischerweise" Carlo Giuliani traf. Entsprechend wurde ein Einschussloch in gewisser Höhe einer Kirchenmauer und eine Patronenhülse aus dem Innern des Jeeps präsentiert. Doch auf Videoaufnahmen ist zu sehen und zu hören wie ein erster Schuss auf Carlo Giuliani abgegeben wurde und zwei Sekunden später (Zeit genug, um zu zielen) aus dem Wagen erneut geschossen wurde, allerdings nicht nach oben - also dort wo der Einschuss präsentiert wurde - sondern nach unten. Ungeklärt ist auch weiterhin, wie viele Personen sich tatsächlich in dem Jeep befanden - drei oder vier - und ob es tatsächlich die Hand des jungen Placanica war, die die Tatwaffe hielt, oder, wie es auf einigen Fotos scheint, eine weitere bisher unbekannte Person, bei der es sich um einen Vorgesetzten des Militärdienst leistenden Carabinieri gehandelt haben könnte.
Zusätzliche Zweifel an der offiziellen Version werden dadurch genährt, dass ein erstes, vom ermittelnden Richter in Auftrag gegebenes unabhängiges ballistisches Gutachten bestätigte, die zwei Schüsse seien aus verschiedenen Waffen abgegeben worden. Daraufhin beteuerte Placanica er habe als einziger geschossen und beide Schüsse abgegeben. Ein weiteres - nicht unabhängiges Gutachten - bestätigte daraufhin diese Version der Ereignisse. Doch warum war es Placanica so wichtig, alle Schuld auf sich zu nehmen, wenn selbst der Richter andere Möglichkeiten eröffnete?
Weitere Ungereimtheiten beziehen sich darauf, dass die Polizei offiziell behauptet, die Spurensicherung erst am 22. Juli vorgenommen zu haben, obwohl anhand von Fotos und Zeugenaussagen diese bereits am 20. Juli vorgenommen wurde. Auch die Kugel, die Carlo tötete sei nie gefunden worden. Ebenso gibt es über die Autopsie widersprüchliche Angaben, so soll Carlo angeblich keinerlei weitere Verletzungen vorweisen, was angesichts dessen, dass er mehrmals von einem schweren Militärjeep überrollt wurde, nahezu unmöglich erscheint. Anonyme Stimmen aus Genueser Krankenhäusern berichteten, die Röntgenaufnahmen und der Autopsiebericht seien gefälscht und manipuliert worden. Die Reihe der Ungereimtheiten ließe sich endlos fortsetzen. Eine Aufklärung scheint jedoch mehr als unwahrscheinlich. Im Gegenteil, Placanica gilt als einziger Schütze und die Öffentlichkeit wird zunehmend auf einen Freispruch vorbereitet. Im Juni präsentierte die Staatsanwaltschaft Gutachter die die These vertraten, die Kugel, die Carlo Giuliani tödlich traf, sei von einem von Demonstranten geworfenen Stein abgefälscht worden.
Carlo Govoni, einer der von der Familie Giuliani einberufenen Gutachter, bezeichnete das Vorgehen der Staatsanwaltschaft und Polizei als Farce, um die Carabinieri freisprechen zu können. Denn die Untersuchung zeige, dass von Notwehr keine Rede sein könne, es seien gezielte Todesschüsse in gerader Linie auf den Kopf abgegeben worden. Und Carlos Vater ist sich sicher:
Mein Sohn ist ermordet worden und das war nicht eine Einzelperson, sondern der Staat. Aber wahrscheinlich werden die Ermittlungen zu dem Ergebnis kommen, dass Carlo Selbstmord verübt hat, während die Polizei gleichzeitig ein Tontaubenschießen auf dem Platz veranstaltete.