Wer hat uns die Fakten geklaut?
Über Wissenschaft, rechte Elitenkritik und die Vertrauenskrise - Teil 2
Rein technisch herrschen heute ideale Bedingungen für eine Selbstaufklärung der Massen. Viele Studien sind kostenlos verfügbar. Mehr Blogs und Magazine als jemals zuvor berichten und analysieren. Zahlreiche Forscherinnen und Forscher wenden sich direkt an die Öffentlichkeit, alle können kommentieren und kritisieren - und dennoch ist die Debatte über bestimmte Reizthemen, besonders in den Bereichen Ökologie, Medizin und Geschichte, oftmals eine zutiefst frustrierende Erfahrung.
Der organisierte Zweifel - das heißt: die Wissenschaft - hält sich an gewisse Spielregeln der intellektuellen Redlichkeit, wie sie in Teil 1 Wissenschaft im Gegenwind ansatzweise beschrieben wurden. Anders Propaganda und Desinformation. Sie spielt die anderes Spiel: Sie missachtet die Regeln wie ein Schachspieler, der das Brett vom Tisch wirft und den anderen verspottet, weil er nicht gewinnt. Das Ziel sind Zersetzung und Diskurs-Sabotage. Hier geht es nicht um Erkenntnisfortschritt, sondern darum, aus dem rhetorischen Schlagabtausch (in dem Augen der Umstehenden) als Sieger hervorzugehen. Neben einer sportlichen Haltung empfiehlt es sich daher, seinen Gegner zu kennen.
Die naheliegende Frage, ob ein Propagandist selbst an die Lügen glaubt, die er verbreitet, lässt sich oft nicht eindeutig beantworten. Viele Diskussionen bewegen sich in einer eigentümlichen Grauzone. Gänzlich gleichgültig ist die faktische Wahrheit seiner Aussagen nur dem bezahlten Online-Propagandisten (wenn er nicht zugleich ein Überzeugungstäter ist), und dem Troll, der aus der Frustration seiner Opfer Befriedigung zieht.
Tatsächlich hat eine psychologische Studie mit dem schönen Titel Trolls just want to have fun ermittelt, dass Trollen oft mit sadistischen Neigungen einhergeht. Beim beruflichen Desinformanten überwiegen finanzielle Motive, beim lustorientierten Desinformatieren aggressive, das Ideologische ist für sie zweitrangig.
Alle anderen Typen des Desinformanten zeigen ein komplizierteres Verhältnis zur Wahrheit. Deutlich wird das am Beispiel der schwarzen Propaganda, das heißt Fälschungen wie erfundene Statistiken, manipulierte Bilder oder vermeintliche Zitate. Diese Form der Propaganda spielt in Online-Debatten eine wichtige Rolle und wird keineswegs nur von Menschen verbreitet, die sich darüber bewusst sind, dass es sich um Fälschungen handelt. Gänzlich überzeugt von ihrer Wahrheit sind sie andererseits ebenfalls nicht. Die meisten Menschen verzichten sozusagen darauf, die Faktizität des Inhalts zu prüfen, solange dieser ins Weltbild passt.
Nun widerspricht Lügen bekanntlich gesellschaftlichen Normen. Führt das halbbewusste Verbreiten schwarzer Propaganda nicht zu einem inneren Konflikt? Nein, weil die (empfundene) Gruppendynamik dominiert. Die eigene Gruppe wird als bedroht wahrgenommen, daher erscheint die schwarze Propaganda als legitim. Die Desinformanten vollziehen sozusagen innerlich den Schritt von der Lüge zur Notlüge.
Das ambivalente Verhältnis zur Tatsachenwahrheit in einer laufenden Propagandaschlacht erklärt auch die fatale Rolle von Ironie und Satire. Wenn beispielsweise Klimaleugner Fotos von Fridays-for-future-Demonstranten manipulieren und Rechtschreibfehler in die Parolen auf den Transparenten einbauen, sehen sie ihre Handlung möglicherweise als satirische Intervention, um die Dummheit der demonstrierenden Schüler zu entlarven, als "Zuspitzung". Dies hindert aber andere Menschen nicht daran, ihre Fälschung für authentisch zu halten und sie mit diesem Gestus weiterzuverbreiten. Auch wer selektiv längst widerlegte Studien oder erfundene Zahlen anführt, mag davon überzeugt sein, dass er damit der richtigen Sache dient, auch wenn er in diesem speziellen Fall Unwahrheiten verbreitet. Wirksame Propaganda, heißt es oft, bedeutet "Lügen mit der Wahrheit". Hier lautet die Devise: "Lügen im Dienst der höheren Wahrheit".
Manöver in der Propagandaschlacht
Wie bereits erwähnt geht es beim argumentativen Schlagabtausch vor allem darum, gut auszusehen. Es schadet nicht, die typischen rhetorischen Strategien zu kennen. Oft ist es auch nützlich, die entsprechenden Fachbegriffe fallen zu lassen.
Dabei lassen sich Attacken auf kausale Zusammenhänge und Ablenkungsmanöver unterscheiden. Zu den Frontalangriffen zählt das selektive Anführen von Studienergebnissen. Wissenschaftliche Evidenz beruht nicht auf einer einzigen Untersuchung. Aber statt die Studienlage insgesamt zu berücksichtigen, suchen sich Propagandisten tendenziös Forschungsergebnisse heraus, die ihnen in den Kram passen (Cherry picking). Werden Belege für das Gegenteil beigebracht, reichen diese niemals aus, die Latte für Evidenz wird immer höher gelegt (Moving the goalpost).
Dabei kommt den Propagandisten zugute, dass wissenschaftliche Erkenntnisse immer nur vorläufig sind - wahr bis zum Beweis des Gegenteils. In Frage steht daher, wann Zweifel vernünftig ist, nicht ob er prinzipiell möglich ist. Zur intellektuellen Redlichkeit gehört aber, plausible alternative Theorien anzubieten. Wer "das offizielle Narrativ" angreift, ohne eine bessere Erklärung vorzulegen, will Verwirrung stiften. Auf die Spitze getrieben wird dies im klassischen Chewbacca-Plädoyer, in dem ein geschickter Anwalt einen völlig irrelevanten Widerspruch benutzt, um Zweifel zu säen. Ähnlich wirkt das Bombardement mit Fakten ohne Zusammenhang (klassische Formulierung: "Weißt du überhaupt, wie hoch der Schmelzpunkt von industriell gefertigtem Stahl liegt?").
Propaganda kann die naturwissenschaftliche Diskussion nicht umgehen, aber versucht nach Möglichkeit, die Auseinandersetzung zu verlagern. Dazu dient ihr in erster Linie die Diffamierung. Sie hat den Zweck, den Fokus von der Botschaft auf den Überbringer der Botschaft zu verschieben. So arbeitet sich beispielsweise die Klimaleugnung an Umweltaktivisten und Wissenschaftlern ab. Sie sollen eine verborgene Agenda haben, wirtschaftliche oder politische Ziele verfolgen, die sie nicht offenlegen. Sie werden als verbohrt gezeichnet, als Anhänger einer "Religion" oder "totalitären Ideologie", andererseits als unsachlich und emotional, zum Beispiel "hysterisch".
Häufig wird ihnen auch Doppelmoral vorgeworfen, weshalb zum Beispiel Klimaleugner die persönliche Kohlendioxidbilanz einzelner Forscher oder Aktivisten unermüdlich in allen Details analysieren. Bei solchen Attacken handelt es sich um diskursive Ausweichmanöver. Schließlich haben weder Persönlichkeit noch Verhalten von Hans Joachim Schellnhuber oder Greta Thunberg etwas damit zu tun, ob der Ausstoß von Kohlendioxid die Erderwärmung antreibt oder nicht und was eventuell dagegen zu unternehmen wäre.
In der Klima-Debatte kehren Taktiken wieder, die bereits in den Kampagnen der Tabakindustrie benutzt und in dem Buch Merchants of doubt beschrieben wurden. Dabei war den Tabak-Lobbyisten bereits in den 1970er Jahren klar, dass sie den Kampf gegen Rauchverbote und Warnhinweise letztlich verlieren würden. Aber sie spielten auf Zeit, säten Zweifel und diskreditierten ihre Gegner unter anderem mit dem schönen Begriff der "Anti-Raucher-Industrie".
Ähnlich wie damals die Tabakindustrie versucht heute die Klimaleugnung Gegenmaßnahmen als Eingriff in die individuelle Freiheit zu diskreditieren beziehungsweise als überflüssig, aussichtslos oder sogar schädlich darzustellen. Oft wird dann darauf verwiesen, dass eine bestimmte Einzelmaßnahme inkonsequent sei (Formulierung: "Was soll ein Verbot von Plastiktüten bringen, wenn das nur 0,3 Prozent der Gesamtmenge ist! Was ist mit den Fahrradreifen?") Durch die Figur Whataboutism begibt sich ein Propagandist allerdings auf gefährliches Gelände, weil er implizit einräumt, dass prinzipiell das beabsichtigte Ziel vernünftig und die Maßnahme geeignet ist, nur eben nicht ausreichend.
Für Propagandisten ist der wissenschaftliche Konsens ein Ärgernis. Sie spielen ihn herunter oder versuchen, die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft insgesamt zu untergraben. Deshalb betonen sie bislang ungeklärte Zusammenhänge und Fehlannahmen aus der Vergangenheit. Jörg Meuthen, der Parteivorsitzende der AfD, behauptete beispielsweise kürzlich, die Klimawissenschaft habe in den 1970er Jahren vor einer Abkühlung gewarnt (tatsächlich die Annahme einer randständigen Minderheit). Bei anderer Gelegenheit erklärte er, zwei Drittel der Studien über den Klimawandel seien sich über die Ursachen nicht sicher, was ebenfalls nicht zutrifft.
Vertrauen wird geschenkt, nicht erpresst
In einer Rede Anfang des Jahres sagte die Bundesforschungsministerin Anja Karliczek: "Klimaskeptiker, Impfkritiker und Verschwörungstheoretiker verbreiten ihre Theorien in Windeseile, Populisten nutzen die Chance zu polarisieren." Der Wissenschaftsrat und die Allianz der Wissenschaftsorganisationen beklagen eine wachsende Wissenschaftsskepsis oder gar "Wissenschaftsfeindschaft". Seit drei Jahren demonstriert der March for Science, eine internationale Bewegung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, für "faktenbasierte" oder "evidenzbasierte Politik". Ihre Parole: "Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Fakten klaut!"
Wer hat das Faktum geklaut und wie holen wir es uns zurück? Von offiziöser Seite wird die Vertrauenskrise oft zum bloßen Kommunikationsproblem erklärt. Die Wissenschaft müsse einfach besser erklären, wie sie funktioniert und was sie leistet, kurz: Lobbyarbeit in eigener Sache machen. Weil in dieser Art von Eigenwerbung aber nichts auftaucht, was tatsächlich fragwürdig ist am Wissenschaftsbetrieb, dürfte sie an dem verbreiteten Misstrauen und Zynismus wenig ändern. Die Wissenschaftsskepsis hat tiefliegende politische und kulturelle Ursachen.
Der Neoliberalismus, der in mancher Hinsicht die antiautoritären Bewegungen des letzten Jahrhunderts beerbte, misstraute dem Experten und feierte den Laien und Amateur. Niemand soll den einfachen Bürger bevormunden, hieß es, denn der weiß am besten, was er will, und findet es auf Märkten. Die Kehrseite dieser Entscheidungsfreiheit sind das Recht und die Pflicht zur intellektuellen Selbstbedienung.
Allerdings überfordert uns in sehr vielen Fällen der Anspruch, es selbst herausfinden zu müssen. Woher kommt dieses merkwürdige Geräusch unter der Kühlerhaube? Ist diese dicke Stelle im Hals gefährlich? Soll ich mein Kind impfen lassen? Gibt es einen anthropogenen Klimawandel? Ohne die Expertise von ausgebildeten Fachleuten können wir diese Fragen nicht entscheiden. Gleichzeitig stehen sie im Verdacht, dass ihr Rat nur eigennützig ist.
Die Wissenschaftsskepsis ist Teil der populären Elitenkritik, die von rechts besetzt wird. Intellektuelle antworten darauf mit Kulturpessimismus. Sie beleben die alte falsche Einsicht neu, dass wahre Kultur und vernünftige Politik nur eine Angelegenheit von Minderheiten sein könne. Angesichts der "populistischen Welle" kehren sehr alte Motive wieder: Demagogen und Manipulatoren verführen das Volk, das nicht in der Lage sein soll, sich unbeaufsichtigt eine Meinung zu bilden.
Zu der kulturpessimistischen Wende, die weit in die Linke hineinwirkt, gehört das Interesse für die Emotionalität der Massen, ihren Zorn, Wut, Angst und Hass - sprich: für ihre Irrationalität. Die Bevölkerung erscheint als leicht erregbar und leichtgläubig. Sie muss geschützt und, wenn nötig, zur Raison gebracht werden. Solche Theorien, die vor allem in populären Sachbüchern verbreitet werden, ähneln der elitären Massenpsychologie von Gustav Le Bons oder auch Walter Lippmann, natürlich ohne dass sich die Autorinnen selbst in diese Tradition stellen würden. Diese Strömung antwortet auf die populäre Elitenkritik mit einer elitären Kritik an der Masse. Das Volk soll, um es polemisch auszudrücken, das Denken lieber denen überlassen, die dafür zuständig sind, weil sie dafür bezahlt werden und daher mehr Übung haben. Diese Reaktion ist selbst autoritär: "Wir sind die Experten, Ruhe jetzt!"
In der gegenwärtigen Wissenschaftsskepsis zeigen sich Desillusionierung und Desorientierung. Wem kann man noch trauen? Niemandem, scheint es. Dieser Zynismus mag verständlich sein, aber er ist gefährlich. Denn wer gar nichts mehr glaubt, lässt sich alles erzählen. Der Fundamentalzweifel gegenüber wissenschaftlichen Aussagen verbindet sich häufig mit einem naiven Bezug auf die eigene Erfahrung. Was die unmittelbare Lebenswelt überschreitet, wird dagegen beliebig, die einen sagen dies, die anderen das, wer kann es wissen. "Unbequeme Tatbestände werden behandelt, als seien sie keine Tatsachen, sondern Dinge, über die man dieser oder jener Meinung sein könne", heißt es bei Hannah Arendt. Tatsachenwahrheit wird zur Ansichtssache.
Die Folgen sind übel: "Das Resultat ist keineswegs, dass die Lüge nun als wahr akzeptiert wird, sondern dass der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird." Anders gesagt, post-faktische Gesellschaften sind auch post-politisch, und die Mächtigen machen, was sie wollen.