Wer kann sich den Kapitalismus überhaupt noch leisten?

Seite 3: Gewinner versus Verlierer und ihre Betreuer

Dass die hohen Preise nicht nur Haushalte und Betriebe in Schwierigkeiten bringen, sondern sich für einige direkt lohnen, deren Gewinne enorme Zuwächse aufweisen, wird nicht verschwiegen. So melden nicht nur RWE und Steag hohe Gewinne (vgl. WAZ, 24.8.22).

Selbst wenn es zur Abschöpfung dieser Gewinne durch eine Übergewinnsteuer käme, hätte diese Einnahmen zunächst der Staat. Wofür er diese Mittel einzusetzen gedenkt, bleibt dann ganz den Politikern überlassen. Dringliche Vorhaben von Seiten der Politik gibt es ja genug – von der angestrebten Aufrüstung der Bundeswehr über die Sanierung des Haushaltes hin zur schwarzen Null, der stärkeren Unterstützung der Ukraine oder des deutschen (Automobil-)Standorts zur Bewältigung der energiepolitischen Transformation bis hin, zuletzt, zu den Entlastungsprogrammen für bedürftige Untertanen.

Vorher steht aber mit der Inflation zumindest der Staat als ein großer Gewinner fest, dessen Einnahmen mit steigenden Preisen und Löhnen automatisch anwachsen. Schließlich profitiert er prozentual von jedem Geschäft in Form der Mehrwertsteuer und ebenso von den nominal steigenden Löhnen und Gehältern, auch wenn diese real weniger Kaufkraft darstellen.

Da viele Bürger sich schon jetzt wenig und in Zukunft noch weniger leisten können, gilt ihnen die Anteilnahme aller Seiten. So wird der nächste Winter in den schwärzesten Farben ausgemalt – nicht ohne dem Publikum zu versichern, dass alles getan werde, um die sicher eintretenden Schäden abzumildern. Den Schaden zu beseitigen oder zu beheben, verspricht eigentlich niemand. Von Seiten der Politik wird gleich betont, dass der Staat nicht alle Teuerungen ausgleichen könne.

Mit den Entlastungspaketen soll die Schädigung erträglich gemacht werden für diejenigen, die als besonders Betroffen gelten. Und streng genommen wird ihnen noch nicht einmal das, die Kompensation der Schäden, versprochen, wie es letztens im Magazin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hieß: Kanzler Scholz verspricht ja vor allem Respekt und Anerkennung angesichts der schweren Zeiten – getreu seiner ständig wiederholten Devise "You‘ll never walk alone". "Walk on through the rain, though your dreams be tossed and blown" – so geht es bekanntlich weiter im Lied. Auf gut Deutsch: Auch wenn alles in die Hose geht – du bist nicht allein!

Und die Härten treffen nicht wenige in dieser Gesellschaft:

Weil die Energiepreise explodieren, dringt die SPD auf ein neues Entlastungspaket. Das Kernanliegen ist, den sozial Schwachen gezielt mit Direktzahlungen zu helfen: Rentnerinnen und Rentner, Alg-I-Empfängern, Studierenden, Auszubildenden. Die Auszahlung der Direktzahlungen orientiert sich offenkundig nach der Energiepauschale, die Arbeitgeber demnächst an die Arbeitnehmerinnen auszahlen.

WAZ, 30.8.22

Mit den Entlastungspaketen wird deutlich, dass der größte Teil der Gesellschaft ohne staatliche Unterstützung die hohen Preise nicht zahlen kann, somit eine Ansammlung von Sozialfällen darstellt.

Den Anspruch, die durch die Inflation verursachten Schäden auszugleichen, haben diese Maßnahmen nicht, sie sollen, siehe das Kanzler-Motto, hinnehmbar gemacht werden. Sprich: Die Bürger sollen sich die dauerhafte Schädigung durch leichte Milderungsmaßnahmen abkaufen lassen. Das scheint auch billig zu haben:

Erfolgsmodell 9-Euro-Ticket – Mal günstig an die Ostsee, zur Arbeit oder zu Freunden: Das 9-Euro-Ticket hat in den vergangenen drei Monaten bundesweit 52 Millionen Abonnenten in Busse, Regionalzüge, S-Bahnen und U-Bahnen gelockt.

WAZ, 30.8.22

Offenbar kann ein Großteil der Bevölkerung eine Reise an die Ostsee, zur Arbeit oder zu Freunden nur schwer finanzieren und ist bereit, einiges an Unannehmlichkeiten wie volle und verspätete Züge etc. in Kauf zu nehmen, um auch mal zur Ostsee zu gelangen. Was da als Erfolgsmodell gefeiert wird, ist zudem keine Dauereinrichtung, sondern als begrenzte Maßnahme ein Trostpflaster für all diejenigen, denen die Inflation das Leben schwer macht.

Auch die Interessenvertretung der deutschen Arbeitnehmer in Form des Deutschen Gewerkschaftsbundes und seiner Mitgliedsgewerkschaften betont, dass man zwar einen Ausgleich für die Preissteigerungen anstrebt, wobei die Forderungshöhe bereits signalisiert, dass man bereit sind, auch unterhalb der Inflationsgrenze abzuschließen.

IG-Metallchef Hofmann habe im Vorfeld der Forderungsempfehlung immer wieder klargemacht, dass sich die Auswirkungen der hohen Inflation auf die Beschäftigten nicht allein mit Mitteln der Tarifpolitik ausgleichen ließen, schrieb unlängst das Handelsblatt. Seine Gewerkschaft fordere deshalb von der Bundesregierung neben einem Gaspreisdeckel eine Senkung des Strompreises und für das kommende Jahr ein zusätzliches Entlastungspaket für die Verbraucher.

Gleich zu Beginn der Metalltarifrunde hat also der oberste Vertreter der IG Metall, der weltweit größten organisierten Arbeitnehmervertretung mit 2,26 Millionen Mitgliedern, betont, dass es eine Überforderung der Tarifpolitik sei, einen vollständigen Ausgleich zu schaffen. Auch so kann man zum Ausdruck bringen, dass einem als Gewerkschafter das Wohlergehen der Wirtschaft dringlicher ist als ein Schadensausgleich für die eigenen Mitglieder.

Schließlich sehen die Gewerkschaftsvertreter die Abhängigkeit der Arbeitnehmer vom Gang des Geschäfts längst nicht mehr als einen Mangel, der den Lohnarbeitern immer wieder zum Schaden gereicht, sondern als die positive Geschäftsgrundlage, auf der es zu verhandeln gilt.

Somit war das Ergebnis abzusehen: "Weniger Geld für Arbeitnehmer – Reallöhne sinken wegen der Inflation um 3,6 Prozent." (SZ, 24.8.22) Dem abzuhelfen, sehen sich die Gewerkschafter nicht gefordert, sondern verweisen auf die Politik, die gerade die schweren Zeiten ankündigt.

Die Opfer der Inflation können sich auch des Beistands der Kirchen sicher sein, die immer schon den Untertanen empfohlen haben, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist. Sie stellen ihren Beistand in traditioneller Form unter Beweis:

Die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus habe unlängst angekündigt, dass die evangelische Kirche im kommenden Winter Wärmeräume und Suppenküchen anbieten werde, sollten mehr Menschen angesichts der gestiegenen Lebenshaltungskosten in eine Notlage geraten, las man in der Westdeutschen Allgemeinen.

Sicherlich werden die Armen auch ins Gebet eingeschlossen und auf Gottes Hilfe verwiesen, was ja jedem, der’s glaubt, den nun wirklich bombensicheren Trost "You‘ll never walk alone" verschafft.

Auch die Medien begleiten die sich abzeichnende Notlage ihrer Leser und Zuschauerschaft mit praktischen Spartipps, die sie nicht neu erfinden müssen. Schließlich tun sich viele Bürger schon seit Jahren schwer, mit ihrem beschränkten Einkommen über die Runden zu kommen. Und so sind die Lüftungs- und Heizungstipps, die Empfehlungen zum billigen Einkauf oder günstigen Tanken (vgl. WAZ, 25.8.22) schon seit Jahren im Umlauf und bekommen nachgerade etwas Kalauerhaftes.

Spitzenreiter dürfte wohl Bild sein mit dem heißen Tipp: Statt im Winter zu heizen, in Urlaub fahren!

Gewarnt wird allenthalben vor einem sich abzeichnenden Wutwinter: "'Wutwinter', 'heißer Herbst' – in diesen Wochen wird gern gemutmaßt, ob wegen der Energiekrise und den Preissteigerungen bald soziale Unruhen drohen", so Benedikt Peters in der Süddeutschen Zeitung.

Womit gemeint ist, dass die Bürger anfangen könnten, sich gegen die ständige Verarmung zu wehren und auf die Straße zu gehen: In diesem August habe im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) eine neue Einheit ihre Arbeit aufgenommen. Eine sogenannte Sonderauswertung soll herausfinden, wie heiß der Herbst auf deutschen Straßen nun wirklich werden wird, berichtete die SZ am 30.8.22.

Dabei wird immer wieder betont, dass Protest und Demonstration in diesem Staat erlaubt sind. Sie müssen sich aber – Achtung! – im Bereich des Erlaubten bewegen, d.h. nicht darauf berechnet sein, irgendwie die Politik zu etwas zwingen zu wollen.

Wenn nun auch die Linkspartei hervorhebt, dass sie bestrebt ist, den möglichen Protest in demokratische Bahnen zu lenken, dann bedeutet dies, dass alles dafür getan werden soll, dass das Vertrauen in die Politik nicht erschüttert wird. Deshalb hat der Verfassungsschutz auch schon einen neuen Handlungsbereich für sich entdeckt: den der Delegitimierung.

Was nichts anderes bedeutet, als dass schon jedes Hinterfragen der herrschenden Politik, das deren Anliegen nicht teilt und die Legitimierung mit den bekannten – alternativlosen – Sachzwängen nicht glaubt, so etwas wie einen Straftatbestand darstellt.

So rüstet sich die Nation für einen Winter, der einigen enorme Gewinne bescheren wird, während andere sehen müssen, wie sie ihren Alltag auf die Reihe bekommen. Eins soll in jedem Fall gesichert werden, dass die Betroffenen dies allenfalls mit ein wenig Volksgemurmel hinnehmen.