Wer zerstörte die Republik der Wolga-Deutschen?

Stadt Marx, gegründet 1765. Bild: Ulrich Heyden

Vor 80 Jahren begann die Deportation von 373.000 Sowjetdeutschen von der Wolga nach Kasachstan und Sibirien. Stalin fürchtete, sie könnten mit Hitler sympathisieren

Wer das ehemalige Siedlungsgebiet der Wolgadeutschen besuchen will, nimmt in Moskau den Nachtzug nach Saratow. Die Stadt liegt 846 Kilometer südöstlich von Moskau. Die etwas ruckelige Zugfahrt dauert 17 Stunden. Doch die Waggons sind modern und haben sogar Duschen. Für einen Platz im Liegewagen zahlt man umgerechnet 30 Euro.

Von Saratow geht es mit dem Auto nach Marx. Diese 1765 entstandene Stadt mit ihren heute 30.000 Einwohnern war neben der Stadt Engels eine der wichtigsten Städte der 1923 gegründeten "Autonomen Sozialistischen Sowjetischen Republik der Deutschen an der Wolga".

Impressionen aus der Stadt Marx (15 Bilder)

Altes Kaufmannshaus in der Stadt Marx. Bild: Ulrich Heyden

Wir fahren entlang einer Steppe mit gelblich-bläulichen Gräsern und Kräutern. Man sieht Hirtinnen und Hirten mit Schafen, Kühen und jungen Pferden. Links und rechts der Straße ziehen sich große Felder mit Sonnenblumen, deren Blätter schon vertrocknet sind. Die Blumen sind für die Ölproduktion bestimmt, werden aber erst im Oktober vor dem ersten Frost geerntet.

Die Neugier auf Unbekanntes ist groß und so halten wir an einem Markt für geräucherten Fisch aus der Wolga. Ich kaufe einen kaltgeräucherten Som und einen Sudak mit wenig Salz und zahle zwölf Euro.

Schließlich erreichen wir Marx. Am Ortseingang steht ein großes weißes Relief des deutschen Philosophen, der das "Manifest der Kommunistischen Partei" schrieb.

Eine Stadt, die ihren Namen mehrmals wechselte

Durch Krieg und Systemwechsel hat sich der Namen der Stadt Marx mehrmals geändert. Zunächst hieß sie Katharinenstadt. Der Name war eine Anerkennung an die Zarin Katharina die Große. Sie hatte im Dezember 1762 Ausländer nach Russland eingeladen.

Die Neuansiedler sollten das dünnbesiedelte Wolga-Gebiet vor Eindringlingen schützen und landwirtschaftlich erschließen. Dem Aufruf folgten vor allem Deutsche, Niederländer und Schweizer.

Die Deutschen bauten Getreide und Tabak an. In der mehrgeschossigen Tabakfabrik aus rotem Klinker im Zentrum von Marx wird heute Bier gebraut. Die Deutschen bauten den in der Gegend auch den bis dahin unbekannten Hopfen und auch Senf an.

1920, nach der Oktoberrevolution, wurde der Ort in Marxstadt umbenannt. Seit 1942 hieß die Stadt dann nur noch Marx. Weil Hitler-Deutschland 1941 die Sowjetunion überfiel, hatte man das deutsche Wort "Stadt" aus dem Namen getilgt.

Nordteil der Autonomen Wolga-Republik der Deutschen. Bild: Heimatmuseum Marx

Was er von dem Ortsnamen Marx halte, frage ich einen unserer Taxifahrer. "Ich habe nichts gegen diesen Namen", antwortet der etwa 45 Jahre alte Mann. "Und der gescheiterte Sozialismus?", hake ich nach. "Vielleicht hat man Marx nur falsch verstanden", antwortet der Taxifahrer diplomatisch. Und ja, über Marx habe er Einiges im Schulunterricht erfahren.

Die Stadt Marx hat keine Prunkbauten, so wie in Moskau und St. Petersburg. Doch die alten Kaufmannshäuser aus rotem Klinker in der Innenstadt zeugen von reger Wirtschaftstätigkeit. Reich sind die Menschen hier nicht. Aber die Stadt macht einen sauberen, ordentlichen Eindruck. Es gibt mehrere kleine Fabriken. Produziert werden Beton-Bauteilte, Lampen, Einzelteile für Dieselmotoren, Bier und Sonnenblumenöl. Viele fahren zum Geldverdienen nach Moskau und in den russischen Norden, wo Erdöl und -gas gefördert wird.

1995 der erste Gottesdienst seit 1941

Die Deutschen bauten im Wolga-Gebiet viele Kirchen. Viele sind inzwischen zerfallen, oder sie werden als Schulen oder Verwaltungsgebäude genutzt. In Marx gibt es eine neugebaute katholische und eine evangelische Kirche aus dem 19. Jahrhundert. Letztere war zu Sowjetzeiten das Kulturhaus der Fabrik "Kommunist", welche Dieselmotoren für U-Boote herstellte.

1995 fand in der evangelischen Kirche von Marx der erste Gottesdienst seit 1941 statt. 2016 wurde der in den 1950er-Jahren gekappte Turm der evangelischen Kirche wieder aufgebaut. Mit finanzieller Unterstützung deutscher und niederländischer Gemeinden und eines russlanddeutschen Geschäftsmannes wurde die Kirche, die 1.000 Menschen fasst, komplett renoviert.

Die evangelische Gemeinde habe jetzt 50 Mitglieder, berichtet mir der Pastor Jakob Rüb, den ich nach einem Gottesdienst in der Kirche anspreche. Rüb ist seit 2019 Pastor in Marx. Seine Eltern stammen aus der ehemaligen Wolga-Republik. Sie wurden im September 1941 nach Sibirien deportiert: "Mein Vater war bei der Vertreibung elf Jahre, meine Mutter sechs Jahre."

Jakob Rüb - Pastor der evangelischen Kirche in der Stadt Marx. Bild: Ulrich Heyden

Mit seinen Eltern zog Rüb 1976 wieder in die Stadt Marx. "Ich bin in einer konservativen evangelischen Familie aufgewachsen", erzählt der Pastor. 1989 wanderte die Familie Rüb dann nach Deutschland aus, wo jetzt drei Kinder des Pastors leben.

Ob es schwer war, sich aus Deutschland zu verabschieden? "Ich bin der Knecht Gottes und bereit für den Herrn in seinem Weinberg zu arbeiten. Aber für meine Frau ist das schon nicht einfach gewesen, die Kinder in Deutschland zu lassen."