Wer zerstörte die Republik der Wolga-Deutschen?

Seite 2: Zwei Drittel der Bevölkerung waren Deutsche

Nach der Oktoberrevolution 1923 bekam das von Deutschen besiedelte Gebiet an der Wolga den Status einer "Autonomen Sowjetischen Republik" innerhalb Russlands. Mit der Aufwertung wollte die sowjetische Führung die Integration der Deutschen fördern. 1939 lebten in der Republik 60 Prozent Deutsche und 25 Prozent Russen.

Das Autonome Gebiet der Deutschen hatte vor seiner Auflösung 1941 600.000 Einwohner. Die Bewohner waren damals vorwiegend in der Landwirtschaft tätig. Es gab aber auch Fabriken für landwirtschaftliche Maschinen. In einer dieser Fabriken in der Stadt Marx ging 1920 der Mini-Traktor "Karlik" (Zwerg) in Serie.

Zwei Monate nach dem Überfall der Wehrmacht begann die Deportation

Am 28. August 1941 wurde die Republik der Sowjetdeutschen aufgelöst, aus Angst, Hitler könnte mitten in der Sowjetunion Sympathisanten finden.

Am 28. August 1941 begannen Einheiten des NKWD in der Deutschen-Republik mit der Deportation. Die Einwohner bekamen ein bis drei Tage Zeit, um ihre wichtigsten Habseligkeiten zusammenzupacken.

Dann wurden sie in Güterwaggons verfrachtet. In jedem Waggon befanden sich 40 Personen. Die Fahrt in entlegene Gebiete in Kasachstan und Sibirien dauerte viele Tage. Die Notdurft mussten die Menschen irgendwie zwischen ihrem Gepäck verrichten. Klos gab es nicht. 700 Menschen – vor allem Kinder – sollen bei der Zwangsumsiedlung gestorben sein.

Internierung in Arbeitslagern

Offenbar war es nicht einfach, den Deportierten in der neuen Umgebung Arbeit zu geben und sie vollständig an ihren neuen Wohnorten zu integrieren. Um soziale Spannungen abzubauen und den Mangel an Arbeitskräften auszugleichen – viele Männer waren an der Front – wurden 316.000 Deutsche unter Aufsicht des NKWD in Arbeitslagern kaserniert.

Die Deportierten wurden zur Arbeit in Panzer- und Munitionsfabriken, beim Bau von Wasserkraftwerken, in Stahl- und Aluminiumfabriken, auf Schiffswerften und beim Holzfällen eingesetzt.

Der Mehrheitsbevölkerung in der Sowjetunion ging es in den Kriegsjahren nicht viel besser. Weil die Männer an der Front waren, mussten Jugendliche und Frauen in den Rüstungsfabriken arbeiten.

Die Menschen in den Arbeitslagern nannten sich selbst "Arbeitsarmee", um ihren sozialen Status etwas zu erhöhen. Man wollte Teil des Widerstands gegen den deutschen Faschismus sein und träumte davon, nach dem Sieg über Deutschland in die Heimat zurückkehren zu können.

1946 wurden die Arbeitslager zwar aufgelöst. Aber die deportierten Deutschen durften ihre Verbannungsorte nicht verlassen. Sie mussten sich nun selbst Wohnung und Arbeit suchen. Erst am 3. November 1972 erließ der Oberste Sowjet der Sowjetunion einen Erlass, demzufolge die Deportierten wieder an ihre Heimatorte zurückkehren konnten.

Dies war vielleicht auch eine Folge der damals einsetzenden Entspannungspolitik zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion.

Die Leiden der deportierten Deutschen sollen hier nicht kleingeredet werden. Es muss aber daran erinnert werden, dass der europäische Teil der Sowjetunion nach 1945 durch den Vernichtungskrieg der Deutschen weitgehend verwüstet war. Die Bevölkerung im europäischen Teil der Sowjetunion lebte zwischen Trümmern. Jahrelang mangelte es an Lebensmitteln und gesunden, männlichen Arbeitskräften.

"Arbeit ist des Lebens Zierde"

Im Heimatmuseum der Stadt Marx, gibt es mehrere Räume, in denen der Alltag der Deutschen vor der Verbannung dargestellt wird. Man sieht Betten und Kommoden im Stil des Klassizismus und Jugendstil, schwarze Frauenkleider, bunte Stricksocken und ein mit einem roten Faden besticktes weißes Tuch, auf dem zu lesen ist, "Arbeit ist des Lebens Zierde".

In einem Schaukasten des Museums sieht man auch die Anordnung des Obersten Sowjets zur Deportation, vom 28. August 1941. Dort heißt es: "Nach zuverlässigen Meldungen" gäbe es in der deutschen Bevölkerung an der Wolga "Tausende und Zehntausende Diversanten und Spione", die "auf Befehl aus Deutschland Explosionen auslösen sollen".

Über die Diversanten seien den sowjetischen Organen nichts mitgeteilt worden. "Folglich deckt die Bevölkerung die Feinde der sowjetischen Macht." In Kasachstan und Sibirien habe man "Boden für die Umsiedler bereitgestellt."

Anlass für die Deportation war möglicherweise eine am 4. August 1941 verfasste Meldung von der sowjetischen Südfront an Stalin. Am Dnjestr, wo es Dörfer mit kompakter deutscher Bevölkerung gab, sei die Wehrmacht "mit Brot und Salz" empfangen worden. Stalin schrieb voller Wut mit rotem Stift auf die Frontnachricht: "Fortjagen muss man sie."

In der Ukraine warb die SS erfolgreich Deutsche an, die 1944 bei den Kämpfen eingesetzt wurden.

Im europäischen Teil der Sowjetunion lebten vor dem Zweiten Weltkrieg 1,2 Millionen Deutsche. Nicht nur von der Wolga, sondern auch aus der Ukraine, dem Kaukasus, Moskau und Leningrad und anderen Regionen im europäischen Teil der Sowjetunion wurden insgesamt 800.000 Deutsche deportiert.

Unter falschem Namen in die Rote Armee

33.000 Deutsche sollen sich nach Ermittlungen des Historiker Nikolai Bugaj in den ersten Tagen nach dem deutschen Überfall bei den Wehrämtern gemeldet haben, ein großer Teil von ihnen aus der Wolga-Region.

Ab September 1941 wurden jedoch Deutsche aus der Roten Armee entlassen. Sie mussten von nun an in Baubrigaden dienen. Doch es gab viele junge Deutsche, die unbedingt an die Front wollten.

Sie ließen sich unter russischen, aserbaidschanischen und ukrainischen Namen für die Armee registrieren. Mehrere hundert Deutsche sollen es gewesen sein, die unter falschem Namen oder Unachtsamkeit der Diensthabenden in die Rote Armee aufgenommen wurden.

Einer der Deutschen, die in der Roten Armee kämpften, war Woldemar Wenzel. Er wurde im Dorf Orlowskoje, nicht weit von der Stadt Marx geboren. Als 17-jähriger meldete er sich unter dem Namen Wladimir Wenzow zur Front.

Nach einer kurzen militärischen Ausbildung wurde er Kommandeur einer Maschinengewehr-Einheit der 61. sowjetischen Armee. Am 25. September 1943 starb Wenzel, nachdem seine Einheit in der Ukraine den Dnjepr überquert hatte. Für seinen Mut wurde der junge Soldat nach seinem Tod als "Held der Sowjetunion" ausgezeichnet.