Werden die Karten neu gemischt?
Der "Atlas der Globalisierung" sucht Themen und Probleme, Schauplätze und Akteure des Globalisierungsprozesses darzustellen
Mit dem Atlas der Globalisierung ist dieses Jahr ein Führer erschienen, der sich mit einer Fülle von anschaulich dargestellten Fakten anschickt, die Idee und die Praxis der Wirtschaftsglobalisierung zu entmythologisieren. Er geriert sich dabei nicht nur als Lehrmaterial, das über den Stand und die Hintergründe unterschiedlichster Weltprobleme informiert, sondern auch als Werkzeug um in den häufig als unaufhaltsames Naturereignis inszenierten Globalisierungsprozess einzugreifen.
Die Jesuiten begriffen die Welt nicht nur sehr früh als eine unermessliche Ansammlung verschiedener Einzelphänomene, die es zu studieren und in Zusammenhang zu setzen galt. Sie waren auch Vorreiter einer netzwerkförmigen Organisation dieses Wissens: Die Missionare des Ordens wurden in die entlegensten und entferntesten Teile der Welt entsandt (darunter Mexiko, Salvador Bahia, Brasilien, Afrika, Indien, Japan oder China), fühlten sich vor Ort in die vorgefundenen Kulturen ein, passten sich an sie an und lernten von Innen heraus von ihnen, um letztlich auf dieser Basis ihr religiöses Universalprodukt (den katholischen Glauben) zu "lokalisieren".
Diese Grundlage war es im Gegenzug, die es ihnen ermöglichte einen enormen Fundus an Informationen zurück zu übermitteln. Siegfried Zielinski hält in seinem neuen Buch "Archäologie der Medien" (Rowohlt, 2002) diesbezüglich fest:
"So entstand in den letzten Jahrzehnten des 16. und 17. Jahrhunderts ein weltweites Netzwerk des Missionierens, der Bildung und der Künste. Der Vatikan in Rom war seine übergeordnete politische Kontrollinstanz."
Zielinski spricht sogar von einem "jesuitischen Informations- und Kommunikationssystem" im Weltmaßstab und erzählt von Athanasius Kircher, der zu dieser geistigen Zentrale Zugang hatte und mit diesem Wissen begann, enzyklopädische Publikationen herauszubringen, darunter "China Illustrata", die 1667 erstmals erschien, also nur 37 Jahre nach dem das erste Werk, das den Namen Enzyklopädie (aus griechisch enkýklios paideía "Kreis der Bildung", "Umkreis des Wissens") trug, herausgekommen war.
Der (globale) Herrschaftsanspruch, der sich in diesen Wissenskompendien spiegelte, kommt auch in der karthographischen Arbeit von Gerhard Mercator zum Ausdruck, der - für Kaiser Karl V arbeitend - 1595 mit einer Sammlung seiner Karten den Begriff "Atlas" prägte und vor allem aber auch durch seine große, für die Seefahrt bestimmte Weltkarte (18 Blätter; 1569) berühmt wurde. Diese wurde in der von ihm neu entwickelten Mercator-Projektionsform gestaltet und war eine konforme, normalachsige Zylinderprojektion der Erde, bei der sich die (als Geraden abgebildeten) Meridiane und Breitenkreise rechtwinklig schneiden. Wegen ihrer Winkeltreue ist noch heute für die Navigation von Bedeutung.
Die Frage des systematischen Zusammenhangs des Weltwissens, die von Aristoteles über F. Bacon bis hin zu G.W.F. Hegel nahezu alle philosophischen Universalgelehrten beschäftigte, hatte aber auch schon immer eine emanzipatorische Dimension: Die "Encyclopédie" (1751-72) zum Beispiel war das große Gemeinschaftswerk der französischen Aufklärung - trotz unterschiedlicher Weltanschauung einte deren Herausgeber und Mitarbeiter die Überzeugung, durch Sammlung und Aufzeichnung alles verfügbaren Wissens dem Fortschritt der Menschheit zu dienen. Mit einem vergleichbaren Anspruch haben sich auch die Macher des "Atlas der Globalisierung" (2003) an die Arbeit gemacht, der von Le Monde diplomatique herausgegeben wurde.
Schließlich gilt es heutzutage, das Wissen um die Welt nicht nur gegen die Geheimdienste zu behaupten, sondern auch gegen eine Globalisierung, die zum Stichwort für den totalen Weltmarkt eines schrankenlosen Kapitalismus geworden ist und deren stärksten Befürworter eine Nation ist, die sich als "von Gott auserwähltes Volk" begreift, "das die religiöse Pflicht und Mission hat, überall auf der Welt Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit zu verbreiten." (Rudolf Maresch in "Raum-Macht-Wissen", Suhrkamp 2002).
Hermann Scheer zeichnet in dem Einleitungs-Essay zum "Atlas der Globalisierung" nicht nur nach, wie Mitte der 1990er in Aussicht gestellt wurde, dass diese universalen Werte durch den Welthandelsvertrag und der damit verbundenen freien Welthandelsordnung durchgesetzt würden. Scheer schildert auch eindrücklich, wie der Welthandelsvertrag unterzeichnet wurde, ohne Kenntnis darüber, dass er mit den utopischen Zielen eigentlich unvereinbar war:
"Kaum einer merkte den Widerspruch zwischen beiden Weltplänen. Und zwar auch deshalb, weil die WTO mit dem hehren Versprechen begründet wurde, den Entwicklungsländern die Märkte in den Industrieländern zu öffnen und weltweit den wirtschaftlichen Wohlstand zu mehren."
Scheer erinnert aber auch auf ein ungehöriges Unwissen, dass 1994 bei Vertragsabschluss vorherrschte: "Kein internationales Abkommen wurde jemals in derartigem Eiltempo durchgewinkt. Nicht einmal alle Vertragstexte lagen den Abgeordneten vor, weil die Zeit zum Übersetzen zu knapp war." In noch größerer Geschwindigkeit sollte die Globalisierung dann über die Bühne gebracht werden. Der "TINA-Satz" (Carl Amery) - "There is no alternative" - wurde zur Apologie der 1990er. Doch zeichneten sich allzu bald die ohnehin bestehenden Ungleichheiten zwischen Ost und West, sowie Nord und Süd in noch größerem Ausmaße ab.
Um diese Folgen in ihrer ganzen Bandbreite aufzuzeigen widmet sich der "Atlas der Globalisierung" im ersten Teil Themen wie Kommunikation, Wirtschaft, Rüstung, technischer Fortschritt, Umweltverschmutzung, Demokratie und Geo-Politik. Im zweiten Teil werden ebenso facettenreich und detailliert die Schauplätze und Akteure der Globalisierung analysiert. Kurze Texte bieten einen Einstieg in das jeweilige Thema, fassen zentrale Entwicklungen zusammen und erlauben somit auch Nicht-Eingeweihten Zugang zu der jeweiligen Problematik. Diese Texte sind aber auch dienlich, um die zahlreichen Karten, die diesen Atlas bebildern, zu kontextualisieren und verständlicher zu machen.
In diesen Weltkarten, die so unterschiedliche Zusammenhänge aufzeigen wie "Die Osterweiterung der NATO", "Sprach- und Bevölkerungsgruppen in China", die "Internationale Vernetzung von Greenpeace" oder "Die größten Freihandelszonen der Welt", wird deutlich, was John A. Gentry mal über Informationen im Geheimdienstkontext gesagt hat:
"Information alone is not intelligence; it becomes intelligence only after proper verification and assessment."
Man wird hinzufügen wollen, dass diese Informationen auch erst dann von Wert sind, wenn sie entsprechend kontextualisiert, kombiniert und visualisiert werden. An den Karten im "Atlas der Globalisierung" zeigt sich jedenfalls, dass die im komplexen und widersprüchlichen Globalisierungsprozess begriffene Welt für jedermann lesbar gemacht werden kann. Doch leisten diese Karten darüber hinaus noch etwas anderes.
Wie Eva Horn im "Raum-Zeit-Macht"-Reader festhält, gelten Karten klassischerweise als Träger kriegswichtigen Wissens und folglich "als begehrtes und verbotenes Objekt in dem Maße, wie sie das Labyrinth zum begehbaren, nutzbaren Raum machen." Die Karten im "Atlas der Globalisierung" drehen den Spieß an dieser Stelle um. Das "Labyrinth der Gegenwart", wie Ignacio Ramonet die Globalisierung im Vorwort bezeichnet, wird durch sie für alle begeh- und nutzbar. Die Macht, die gegenwärtig Bildern zugesprochen wird, kann folglich also auch von dieser Warte aus für aktivistische Ziele mobilisiert werden. (Vgl. auch "Geoinformationssysteme werden IT-Mainstream" (Geoinformationssysteme werden IT-Mainstream).
Archäologie der Medien, Siegfried Zielinski, Rowohlts Enzyklopädie 2002
Raum-Wissen-Macht, Herausgegeben von Rudolf Maresch und Niels Werber, Suhrkamp 2002
Atlas der Globalisierung, Le Monde diplomatique, taz Verlags- und Vertriebs GmbH 2003