"Werkzeugkasten für eine Revolution"
Der Aktivist und Autor Andrew Boyd über prophetische Interventionen und den Klimawandel - Teil 2
Zusammen mit dem Kommunikationsstrategen Dave Oswald Mitchell hat Andrew Boyd das Buch "Beautiful Trouble. Toolbox for Revolution" herausgegeben. In dem Buch stellen verschiedene Aktivisten ihre Kampagnen und Aktionsformate vor. Zugleich sind einzelne Kapitel des Buches online. Ab und zu werden neue Kapitel ergänzt. Der Titel der deutschen Ausgabe lautet "Handbuch für eine unwiderstehliche Revolution".
In Ihrem Buch wird eine Taktik als prophetische Intervention bezeichnet. Dadurch soll ein verlockender Ausblick geboten werden auf eine Zukunft, die so wünschenswerte wie möglich ist.
Andrew Boyd: Die Farm in Nebraska war ein Beispiel für prophetische Intervention, genau.
Im Buch zeigen Sie Critical-Mass-Fahrrad-Demos als ein Beispiel für eine prophetische Intervention. Hier in Berlin findet Critical Mass zweimal im Monat statt. Kennen Sie eine Stadt in der diese Art von Aktionen zu einer konkreten Verbesserung geführt hat? Beispielsweise für mehr Raum für Radfahrer gesorgt hat?
Andrew Boyd: Zweimal monatlich?
Ja.
Andrew Boyd: Das ist zweimal mehr als in New York.
Ein Freitag und ein Sonntag im Monat. Es ist beeindruckend, wie viele Radfahrer zusammenkommen.
Andrew Boyd: Wie viele Menschen? Eher 100 oder 1000?
Ich schätze so etwa 600 bis 1000.
Andrew Boyd: Toll. Ich war bei einer solchen Demo mal in Paris - das waren nur etwa 100 bis 150 Radfahrer. Doch ich war mal bei Critical Mass in San Francisco mit über 3000 Teilnehmern. In Rio de Janeiro oder Buenos Aires - ich weiß es nicht mehr so genau - sollen es mal über 10.000 Radfahrer gewesen sein.
Kennen Sie Beispiele, bei denen Critical-Mass-Radtouren eine Änderung für den Verkehr erreicht haben?
Andrew Boyd: In dieser Welt ist es sehr schwierig einen Kausalzusammenhang zwischen Ursachen und Wirkungen herzustellen. Es ist viel diffuser als das. Bei Critical Mass geht es darum, Fahrradkultur zu feiern. Eine Gemeinschaft wird zwischen Menschen aufgebaut, die an Fahrräder glauben. Es ist eine Art von Spüren der eigenen Macht. Ein Erkennen davon, dass Straßen freundlich mit Fahrrädern fließen könnten. Critical Mass ist eine Feier und ein Akt der Macht. Aus einem "Wir sind hier" wird "Wir sind auch Verkehr". Es fühlt sich so nur dann an, wenn wir in einer Gruppe zusammentreffen. Es ist eine Übung in Selbstermächtigung. Eine Art Fahrrad-Utopia, ein kleines Stück davon. Ein Akt des Widerstands ist es auch. Führt diese Critical Mass zu diesem einen neuen Fahrradstreifen? Es unterstützt die Gemeinschaft unter Radfahrern. In Kopenhagen gibt es jeden Tag Critical Mass, das ist sehr schön. Niemand trägt einen Helm. Nicht wie in den USA. Man muss ein Krieger auf dem Fahrrad sein in New York.
Ein Kampf um Bürgerrechte
Greifen wir das Stichwort USA auf. Wie ist die aktuelle Arbeitslage? Haben Gewerkschaften die Möglichkeit bessere Rechte für Lohnabhängige zu erkämpfen?"
Andrew Boyd: Es ist zäh. Ich meine der Kapitalismus hat einen strukturellen Vorteil. Im Vergleich zu den '30ern oder '60ern. Weil der Kapitalismus so mobil ist. Wenn Fabrikarbeiter in den USA [für höhere Löhne] kämpfen, können die Fabrikbesitzer sagen: "Prima. Wir errichten die Fabrik in Mexiko. Oder Vietnam oder Indonesien." Fabriken sind somit beweglich, doch Pflegeeinrichtungen sind es nicht. Der Dienstleistungssektor ist eine Wachstumsbranche für Gewerkschaften. Dienstleistungen können nur vor Ort angeboten werden.
Ich bin der Meinung, dass die Lage für Erwerbstätige immer noch hart ist. Unternehmen machen eine Menge Geld. Das zeigt sich nicht in einem Zuwachs an Kaufkraft. Unternehmen vermeiden es, Steuern zu zahlen. Die arbeitende Bevölkerung erhält keine Steuererleichterungen, doch Unternehmen schon. Es ist die gleiche alte, bekannte Geschichte. Doch es gibt kreative und erfolgreiche Taktiken von Gewerkschaften. Es gab eine Streikwelle im Land im Fast-Food-Bereich. Der Mindestlohn wurde in diesem Niedriglohnbereich in vielen Städten erhöht. Der Mindestlohn ist in jedem Bundesstaat unterschiedlich. Er lag bei sieben Dollar. In Seattle wurde der Mindestlohn auf fünfzehn Dollar pro Stunde erhöht. Sie versuchten, sich nicht so sehr die Unternehmen zum Ziel zu setzen. Sie üben eher Druck auf der Ebene des Bundeslands oder der Stadt aus. Manchmal gibt es verständnisvolle Bürgermeister und Gouverneure, die nur den Extra-Impuls brauchen, der auf der Straße geschaffen wird. Es wird Druck auf die lokalen Verwaltungen ausgeübt. Das mobilisiert ganze Branchen und wird vielmehr zu einem Kampf um Bürgerrechte."
Beim Thema Arbeitnehmer-Rechte sehe ich eine Verbindung zum aktuell diskutierten Abkommen TTIP.
Andrew Boyd: Das ist eine ganze Geschichte. Es geht darum, sich immer wieder etwas Neues einfallen zu lassen und zu versuchen, das sehr schnell durchzubringen, bevor das Thema öffentliche Aufmerksamkeit erregt. Weil es kompliziert ist, nicht wahr? Menschen reagieren mit "Warte mal, worum geht es?" Und der Begriff Freihandel hat immer noch eine gewisse Resonanz. Ich denke es gibt da viel mehr Skepsis als früher. Doch ich glaube nicht, dass die Mehrheit der Bürger die Zusammenhänge klar erkennt. Und immer gibt es ein neues Ding - TAFTA oder TPP. Sie werfen immer wieder neue Begriffe in den Raum; sie verhandeln immer im Geheimen. Dann kommt etwas an die Öffentlichkeit. Es ist eine knifflige Lage.
Mit "Beautiful Trouble" liefert ihr einen "Werkzeugkasten für eine Revolution" - so lautet die Unterzeile der englischen Ausgabe. Sie glauben also an eine Revolution?
Andrew Boyd: Revolution ist ein Begriff, der viele Sachen meint. Jeder glaubt an Demokratie. Doch jeder meint damit, was auch immer er damit meinen möchte. Bei der Revolution ist ähnlich. Da gibt es die digitale Revolution. Bill Gates glaubt an irgendeine Revolution. So auch Sub-Commandante Marcos [eine politische Kunstfigur der EZLN in Mexiko, Anm. d. A. ]. Doch sie meinen verschiedene Sachen. Sicherlich glaubt Marcos nicht an eine Revolution in der Art und Weise wie es vor einhundert Jahren gemeint war. Er hat die Bedeutung von Revolution neu erfunden. Um es klar zu formulieren: Ja.
Sie haben es als Titel gewählt.
Andrew Boyd: Natürlich. Das System in dem wir leben ist grundlegend fehlerhaft. Beispielsweise die Herstellung von iPhones. Es erzeugt Ungerechtigkeit und Ungleichheit. Verschmutzt unsere Gemeinden. Es hat einen erbarmungslosen Drang zu grenzenlosem Wachstum, was nicht nachhaltig ist. Die Folgen sind Artensterben und die Klimakrise.
Wir sagen nicht, es braucht "die" Revolution, wir sagen "eine" Revolution. Wir wissen nicht genau wie das aussieht. "Beautiful Solutions" hilft, das herauszufinden. Unterschiedliche Menschen werden unterschiedliche Meinungen dazu haben. Unsere Projekte betrachten wir als kollaborativ. Und sie beinhalten Widersprüche. Menschen mit verschiedenen Ansichten steuern ihre besten Ideen bei. Wir müssen die Wirtschaft demokratisieren, wir müssen eine Energieinfrastruktur ohne fossile Energien aufbauen. Wir müssen die Unterdrückung von Menschen beenden. Wir müssen all das machen. Der größte Begriff, der das alles abdeckt, ist "Revolution". Ich glaube nicht, dass das wie frühere Revolutionen aussehen wird. Wir erwarten nicht, dass es eine Art von Sturm auf das Winterpalais wird. Es wird nicht wie 1917 aussehen. Es könnte möglicherweise eine Kombination aus Podemos und Paris '68 werden."
Mut ist gefragt, während alles auseinander fällt
Sie haben beim satirischen Projekt US Dept. of Arts and Culture mitgewirkt. Auf der Website wird die Gegenwart als eine Epoche zerbrochener Systeme bezeichnet. Ein Appell lautet, dass Bürger selbst ermächtigt werden sollen, um sich positive Alternativen vorzustellen und diese zu beschließen. Ernsthaft, haben Sie den Eindruck, dass ein Teil davon bereits erreicht wurde? Ich erinnere mich gerade an einen Ausschnitt eines Films von "The Yes Men", bei dem während einer Konferenz in Sydney verkündet wird, dass sich die Welthandelsorganisation neu erfinden und für die Armen arbeiten wolle.
Andrew Boyd: Das ist nicht eingetreten. In unserem Buch sprechen wir über Kampagnen und Aktionen. Diese Sachen brauchen viel Zeit, manchmal Generationen, manchmal Jahrzehnte, manchmal Jahre. Oft, wenn Veränderungen sehr schnell geschehen, wurden sie in Gang gesetzt. Also es gibt beides, Erfolge, die nicht zu konkreten Gesetzesänderungen führen oder viel verändern, aber zukünftige Erfolge vorbereiten.
Zum Beispiel existiert in Spanien die Partei Podemos, sie hat Unterstützung in der Bevölkerung. Die Bewegung der Indignados ["Die Empörten", Anm. d. A.] führte zur Gründung dieser Partei. Doch sind dadurch irgendwelche guten Gesetze in Spanien erlassen worden? Nein. Doch es entsteht ein Aufbruch, der wirklich kraftvoll und wichtig ist. Es geht um Mobilisierung, die zu neuen Taktiken ermutigt. Eine neue politische Dimension entsteht. Das sind vielleicht wegweisende neue Spielregeln. Auch dann, wenn dadurch noch keine Gesetze geändert wurden. Es verändert die politische Debatte, und es ist ein Erwachen von Generationen. Das sind Erfolge.
Es gibt unterschiedliche Arten von Erfolgen. Mir gefällt ein Zitat von Jamie Henn. Er ist Mitbegründer der Organisation 350.org und sagt: "Alles kommt zusammen, während alles auseinander fällt." Diese Zeilen beschreiben meiner Meinung sehr gut, wie es sich anfühlt, gerade jetzt in dieser Zeit zu leben und in der Bewegung für Klimagerechtigkeit aktiv zu sein. Die Bewegungen erkennen, wie sie bessere Verbündete untereinander sein können. Zeitgleich bricht die Welt gerade zusammen. Der Kapitalismus zerstört den Planeten. Es ist eine spannende Zeit, es ist eine verunsichernde Zeit. Wir können nicht scheitern, dieses Mal. Wir müssen gewinnen.
Im Vorwort des Buches "Beautiful Trouble" heißt es, dass wir alle mutiger sein sollten. Um alles für ein Leben zu riskieren, das lebenswert ist.
Andrew Boyd: Auch ein schlechtes Leben ist lebenswert. Es ist nicht notwendig, gesellschaftliche Probleme zu lösen, um den Mut zu haben, ein lebenswertes Leben zu leben. Das große Thema, an dem ich gerade arbeite, ist die Klimakrise. Den Mut zu haben, die gegenwärtige Situation ohne Täuschung zu betrachten, das erfordert Mut auf mehreren Ebenen. Einfach nur zu leben, erfordert Mut. Und wir wissen, dass jeden Tag in der Welt schreckliche Dinge geschehen. Mut, um das einfach nicht als trockene Statistik zu betrachten, sondern uns vorzustellen, wie das Leben für Menschen ist, die in Armut leben. Und dann, wenn man sich die Folgen von Kapitalismus und Kohlenstoff-Emissionen anschaut und betrachtet, was das unerbittliche Streben nach Wachstum und Gewinnmaximierung um jeden Preis dem Planeten antut. Das ist entsetzlich.
Also, wenn es so weiter läuft und wir dieses Szenario jahrzehntelang durchspielen, dann hätte das katastrophale Folgen. Es erfordert Mut, das zu erkennen, und es erfordert noch mehr Mut etwas dagegen zu tun. Mut, um sich trotz Unsicherheiten wohl zu fühlen. Mutig sein, um Zuversicht und Vertrauen zu entwickeln, dass wir zusammen herausfinden, wie wir Sachen anders und besser anpacken. Nicht einfach überleben, sondern zusammen ein lebenswertes Leben gestalten. Unter ganz unterschiedlichen Bedingungen. Nicht einfach für Menschen aus der Mittelschicht in einer kapitalistischen Großstadt. Sondern für Menschen, die viel verwundbarer sind angesichts der Klimakrise. Die viel weniger Ressourcen haben, um dagegen anzukämpfen. Menschen in Bangladesch, in afrikanischen Ländern, in verarmten Gemeinden, die durch die Hurrikans Sandy und Katrina in New York getroffen wurden. Wir brauchen Mut, um offen zu sein, für die Erfahrungen anderer Menschen, die anders sind, als unsere eigenen Erfahrungen. Mein Hauptprojekt über den Klimawandel ist the climate ribbon.
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