Weshalb die Linke dem Corona-Spektakel nicht entkommt
Seite 2: Emotionen und Lagerbildung
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Die allgemeine Tendenz zur Emotionalisierung und Individualisierung von materiell erzeugten Zuständen wie zum Denken in Gefahren tragen ihren Teil dazu bei: Die einen skandieren mit derselben vollen Kehle und jenem bereits aus den 1970er-Jahren bekannten und inzwischen von niemandem für mehr als Realsatire gehaltenen erbitterten Flugblatternst gegen "Querdenker" und ein paar Charaktermasken liberaler Ideologieapparate wie Ulf Poschardt, Dieter Nuhr, Richard David Precht oder Juli Zeh, wie die anderen mit derselben Inbrunst gegen einen als faschistisch bezeichneten Staat und dessen Regierung.
Einig sind sie sich darin, dass, wenn man sich nur mit einer der Instanzen (aufgewiegeltes Volk oder erpresserischer Staat) verbünde, dem System ein Schnippchen schlagen oder auch nur "die Pandemie beenden" bzw. "die Freiheiten und Grundrechte wiedererlangen" könne. Ohne zu sehen, dass einfach beide jeweiligen Instanzen Unrecht und Recht zugleich haben und stattdessen eine Synthese zu bilden wäre.
Eine solche Synthese könnte eine Kommunistische Partei bilden. Dass es eine solche Kraft in der gebotenen Stärke hierzulande nicht mehr gibt, hat wiederum genau mit dieser sozialdemokratisierten, nichtmarxistischen Attitüde zu tun: Der Aktivismus der Aufgebrachtheit, die sich als ein Aufbringen, also Agitation versteht, ist für beide Strömungen der Kern ihres Handelns und zugleich Ersatz einer wirklichen Praxis.
Bereits 1842 legte der sein Leben lang in Kämpfe mit solchen deutschen Ideologen verstrickte Friedrich Engels in seinem "Anti-Schelling" dar, worin sich die fortschrittliche Praxis des Denkens (nämlich Hegels) von dem sonstigen Denken und Tun seiner Zeit unterscheide.
F.W.J. Schelling, der in gewisser Weise das Modell für die heutige Art des Spektakels abgab, wurde von Engels als ein Philosoph beschrieben, der "Autoritätsglauben, Gefühlsmystik, gnostische PFantasterei in die freie Wissenschaft des Denkens hineinzuschmuggeln" suchte.
Für Hegel, dessen System dem Marxismus Pate stand, sei es hingegen "fürs Erste darauf angekommen, alles Vorstellungsmäßige, Phantastische, Gefühlige entschieden abzuweisen und den reinen Gedanken in seiner Selbstschöpfung zu erfassen." (MEW 41, 175)
Die momentan gern und oft nicht zu Unrecht als Signum dieser Zeit ausgegebene Überempfindlichkeit wie die darauffolgende Kultivierung der Furcht in die jeweiligen Milieus und ihre Medien hinein, werden doch letztlich bei beiden linken Strömungen zur einzigen wirklichen Substanz.
Während die noch übrig gebliebenen Anarcho-Autonomen die Impfung und die staatlichen Maßnahmen (wie überhaupt den Staat und dessen Faschisierung) fürchten oder dies zumindest lauthals verkünden, ist es bei den Regierungstreuen, Staatsgläubigen der Virus, die Ansteckung und Krankheit, gar der Tod, vor dem gewarnt wird.
Der bürgerliche Staat braucht Angst-Events
Es läuft darauf hinaus, das eigene Ungefestigtsein in der Marginalisierung als politische Aktion zu maskieren; man mimt die Reallife-Verkörperung von Twitter-Profilen und hält das schon für Politik, gar Geist oder Kritik.
Die Ausführungen hier sollten nicht als persönliche Kritik an einzelnen Personen missverstanden werden. Sie sind viel mehr als das Aufzeigen der Folgen einer materiell verursachten Notwendigkeit innerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse zu begreifen.
Denn sicher ist das alles keine linke Besonderheit und beileibe nicht hausgemacht: Radikale Linke, ebenso wie der bürgerliche Interessen-Aushandlungsmarktplatz namens Öffentlichkeit, haben mit Corona ein Ereignis, an dem sie ihre im Kapitalismus ohnehin vorhandenen Ängste kollektiv zur Schau stellen und so öffentlich eine Art Gruppentherapie – vermittelt durch TV-Talkshows und Social Media – durchführen können, wo sie sonst alleine wären.
Der Bedarf an solchen Ereignissen ist dem bürgerlichen Staat inhärent, und so geschehen sie zyklisch. Ebenso, wie dieser Staat als Betreiber einer Vernichtungskonkurrenzgesellschaft der Minderheiten bedarf, an denen sich der Zorn der Massen ableiten lässt.
Der Corona-Sensationalismus auf beiden Seiten ist in solcher Hinsicht ein der Logik dieses "Spektakels" (Guy Debord) entsprechendes Ereignis, das auf der nationalen Emotionalisierungsebene sogar noch die Fußball-WM übertrifft und deren Funktion sogar noch besser ausfüllt.
Nach der Pandemie, dessen kann man sich sicher sein, wird also vor der Pandemie sein.
Engels wie Hegel wussten, dass sich die Vernunft mit dem emotionalisierten Bewusstsein nicht mehr im Vertrauen auf eine Weiterentwicklung des Bewusstseins ins Vernehmen setzen kann: Wer von Angst getrieben ist, wird der Rationalität (die es ja, munkelt man, unter all den Bergen von auch wissenschaftlich geframtem Schwachsinn noch geben soll) nur selten noch zugänglich sein.
Linker Vernunft müsste es in diesem Falle darum gehen, die Ängste kollektiv zu überwinden, statt sie vereinzelt zu kultivieren und dabei womöglich diese Kultivierung auch noch als Überwindung oder zumindest Verarbeitung auszugeben. Es bedürfte dagegen der Wiedererrichtung von Grundlagen rationaler Reflexion, die etwa Hegels Philosophie und deren Interpretation durch Marx und Engels geschaffen haben, um ein Insvernehmensetzen wieder zu ermöglichen.
Linke also, denen es um mehr geht als die Verwaltung der bestehenden Zustände und ihrer Krisen, sollten im Zweifelsfall die Gefahr suchen, statt sie zu fürchten und zu meiden. Das hieße dann auch, dass sie sich weniger als eine gesellschaftliche Gruppe von Berichtenden oder am gesamtgesellschaftlichen Reichtum Teilhabeberechtigten begreifen sollten, sondern als kämpfende Arbeiter.