Wettrüsten 2.0.: Was schützt uns im zweiten Kalten Krieg?

Seite 3: Atomwaffen und die Situationen der Schwäche

Gibt es also kein atomares Tabu, ist das Funktionieren der Abschreckung keine wissenschaftliche Gewissheit, sondern ein Glaube, fragt es sich, in welchen Situationen es am wahrscheinlichsten zu einem nuklearen Schlagabtausch kommen könnte. Die Faustregel lautet: Es sind vor allem, Situationen der Schwäche.

Obwohl Kernwaffen typische Angriffswaffen sind, taugen sie nicht dazu, sich ein Territorium einzuverleiben. Sie machen aber Sinn, wenn ohne sie nichts mehr geht. Wird der Gegner übermächtig, treibt er einen Atomwaffenbesitzer in die Enge, durchkreuzt er dessen Absichten nachhaltig, bietet sich der Nuklearschlag an.

Im Koreakrieg tauchten chinesische Massenheere auf, denen die durch die USA geführten Streitkräfte zu erliegen drohten. General Douglas McArthur, deren Oberbefehlshaber, forderte 1951 Atomwaffen von der Stärke der Hiroshimabombe einzusetzen. Die Nuklearoption scheiterte unter anderem daran, dass man nicht wusste, auf welche Ziele man Atombomben werfen sollte. Alle waren zu klein und die Wirkung der Bomben zu groß.16

Die "Miniaturisierung" war bisher nicht weit genug fortgeschritten. Immerhin wurden im Frühjahr 1951 zerlegte Kernwaffen einsatzfähig gemacht, indem man sie auf Stützpunkte an der US-amerikanischen Westküste verbrachte.17

Und heute? Aus russischer Sicht könnte sich die gegenwärtige Situation in der Ukraine analog zum Koreakrieg darstellen. So wie damals die Chinesen die Front der Nordkoreaner verstärkten und die Verteidiger in eine Situation der Schwäche versetzten, sind es heute die westlichen Waffenzulieferer, die Russland in die Enge treiben.

Mit Sicherheit ist anzunehmen, dass in der russischen Administration mindestens ebenso heftig über den Einsatz von Atomwaffen gestritten wird, wie damals in den USA. Ziele für taktische Kernwaffen würden sich leicht finden lassen. Entscheidend wäre die Botschaft: Bis hierher und nicht weiter!

Ganz anders als die US-Amerikaner 1951 verfügt Russland heute über besonders effektive taktische Gefechtsfeldwaffen. Für viel Geld hat man sie in den letzten Jahren modernisiert und perfektioniert.18 Der Stolz, eine Großmacht zu sein, resultiert nicht zuletzt aus dieser Tatsache. Die Versuchung muss groß sein, sie nun zu verwenden.

Atomares Tabu? Immer wieder warnt der renommierte US-Politikwissenschaftler John Maersheimer, dass nicht Putins Stärke, sondern seine Schwäche das Problem ist. Je mehr der Westen eskaliert, jedenfalls die Eskalation nicht durch forcierte Verhandlungsangebote unterbricht, desto wahrscheinlicher wird ein russischer Nuklearschlag.

Dann würde sich zeigen, was ein nukleares Tabu wert ist. Denn übertritt Russland die atomare Schwelle, existiert nur noch eine einzige Frage: Zurückschlagen oder klein beigeben? Was aber wäre eine USA, die in einem solchen Fall klein beigibt? Sie hätte alle Glaubwürdigkeit als Weltmacht verloren.

Herr Biden muss Farbe bekennen: Ist das atomare Arsenal der USA etwas wert oder war Abschreckung nur leeres Gerede. Ein Spiel, böse und weit jenseits der Alltagsmoral: Eskalation notfalls bis zum bitteren Ende. Wer nicht reagiert, hat abgewirtschaftet. Daher verfügt die US-Administration längst über eine ganze Skala von Optionen, die zum Zuge kommen können, wenn Putin die atomare Schwelle übertritt.

Nach Kuba also der zweite große Test auf die Abschreckung. Was damals so eben noch gut ging, kann ein zweites Mal halten, aber ebenso gut in den Untergang führen. Nichts, aber auch gar nichts ist ausgeschlossen.

Wie kommt es, dass so wenige sich dieser Gefahren bewusst sind? Ist wirklich alles Wissen um die Widersprüche von Abschreckung und nuklearer Bewaffnung verloren gegangen? In Deutschland stattdessen moralisch erbauliches Getöse unter Ausblendung der Realität. Die Außenministerin mag vom Völkerrecht herkommen, von den Ansprüchen der Menschen auf Leben und Überleben hat sie offenbar sachbezogen keine Ahnung. Man sollte sich warm anziehen.

Gemeinsame Sicherheit

Was kann uns vor dem Schlimmsten schützen? Gewiss keine Pseudomoral, die wieder einmal glaubt, Probleme durch Krieg lösen zu müssen, weil er diesmal ach so gerecht ist. Schutz wird auf Dauer nur die Einsicht bieten, dass es im Atomzeitalter nur gemeinsame Sicherheit gibt oder aber den gemeinsamen Untergang. Eine dritte Möglichkeit existiert nicht. Es ist nicht leicht, diese Wahrheit hochzuhalten, während Russland sich als Enfant Terrible aufführt.

Jene Erkenntnis, die vor Jahrzehnten den KSZE-Prozess anstieß und 1990 in der Charta von Paris ausdrücklich formuliert wurde, bleibt auch dann wegweisend, wenn durch Putins sinnlosen Angriff alle Maßstäbe durcheinander geraten. An Diplomatie in diesem Sinn und an Verhandlung führt kein Weg vorbei.

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