Wie Krieg in der Ukraine alles vergiftet – insbesondere die Wahrheit

Eine Frau geht durch eine Straße mit zerstörten russischen Panzern in Butscha, einem Außenbezirk von Kiew, im April 2022. Bild: Rodrigo Abd / CC BY 2.0

Eine neue Studie zeigt, wie im Ukraine-Krieg die Wahrheit unter die Räder kommt. Von russischer, aber auch westlicher Seite wird übertrieben, unter den Teppich gekehrt und Unangenehmes ignoriert. Über den gefährlichen Kampf der Narrative.

Konflikte und Kriege sind immer auch Kämpfe um Wahrheit, oder, um es etwas weniger pathetisch auszudrücken, um Sichtweisen auf den Konflikt. Es geht um Handlungen, Motive und Rechtfertigungen. Am Ende dreht sich alles darum, wie man die Gewalt und den Konflikt wieder eindämmen, wenn nicht überwinden kann, um die Bevölkerung zu schützen, die unter dem Konflikt leidet.

Ein Hemmnis für jegliche friedliche Lösung ist in Konflikten aber nicht nur, dass Aggressoren und Konfliktparteien nicht an Frieden interessiert sind und Machtinteressen den Konflikt vorantreiben, sondern auch, dass in der Öffentlichkeit kontinuierlich Öl ins Feuer gegossen wird.

Die US-Journalistin Amy Goodman sagte einmal: "Medien sind mächtiger als Bomben". Sie rührten in Kriegszeiten allzu oft die Werbetrommel für Krieg. Der Politikwissenschaftler Ivan Katchanovski von der University of Ottawa in Kanada drückt es so aus: "Regierungen und Medien verbreiten in bewaffneten Konflikten oft Propaganda".

Katchanovski beschäftigt sich schon seit langem mit dem Konflikt in der Ukraine. Auf einer Konferenz hat er nun die Ergebnisse einer von ihm durchgeführten Studie vorgestellt, die die unterschiedlichen Narrative rund um den Konflikt und den Einmarsch Russlands analysiert. Er macht dabei auch klar, worum es ihm geht bzw. nicht geht: Statt auf Verlautbarungen und Propaganda will Katchanovski sich auf "Belege, akademische Konzepte und Theorien" stützen, die "Kriege in nicht-parteiischer Weise" untersuchen.

Das, was Katchanovski herausgefunden hat, mag im Einzelnen nicht überraschend für diejenigen sein, die sich mit Konflikt-Berichterstattung und auch mit dem Ukraine-Konflikt im Besonderen beschäftigt haben. Beeindruckend ist vielmehr die groß angelegte Zusammenfassung und Überprüfung der dargebotenen Erzählungen. Katchanovski liefert ein gut belegtes und sorgfältig abwägendes Panorama von zwei sehr unterschiedlichen, in ihrer Art einseitigen Interpretationen der Ereignisse.

Die beiden sich widersprechenden Erzählungen gehen ungefähr so:

In Russland wird von der Regierung und den Medien die Invasion als "militärische Spezialoperation" präsentiert, nicht als ein Krieg. Der Grund für den Eingriff seien Sicherheitsbedrohungen wie ein Nato-Beitritt bzw. die Stationierung von US-Raketen in der Ukraine gewesen. Zudem habe man "humanitär interveniert", um den Genozid an ethnischen Russen im Donbass zu stoppen, während man die ukrainische Regierung als Nazi bzw. Nazi-ähnlich nach dem "faschistische Coup" von 2014 bezeichnet. Kriegsverbrechen des russischen Militärs werden geleugnet oder als "False-Flag"-Inszenierung von ukrainischer Seite dargestellt.

In der Ukraine gilt dem gegenüber der russische Überfall als illegaler Krieg, der seine Wurzeln in der Annexion der Krim und dem Krieg im Donbass seit 2014 hat. Ziel Moskaus sei es, die ganze Ukraine zu besetzen, während man einen Genozid an den Ukrainer:innen begehe. Zivile Opfer im von Separatisten besetzten Donbass werden russischen Bombardierungen unter falscher Flagge zugeschrieben.

In westlichen Staaten und den meisten Medien wird die ukrainische Sicht zu großen Teilen übernommen. Dort erscheint der russische Einmarsch als nicht provozierter Aggressionsakt gegen ein souveränes, demokratisches Land durch ein autokratisches Regime, um die ganze Ukraine unter russische Besatzung zu stellen. Es wird ebenfalls von einem Genozid gegen die Ukrainer:innen gesprochen.

Zudem stellen ukrainische Regierung und Medien die Maidan-Proteste von 2014 und die politische Transition als "Revolution der Würde" dar. Das nicht demokratische Regime vom damaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch sei durch friedliche Volksproteste gestürzt worden und rechtmäßig durch das Parlament ersetzt worden – was von westlichen Regierungen und Medien übernommen wird. In Russland spricht man hingegen von einem Staatscoup, organisiert hauptsächlich von den USA. Das Massaker auf dem Maidan sei zudem nicht von Janukowitsch angeordnet oder staatlichen Sicherheitskräften oder der Polizei durchgeführt worden.

Katchanovski prüft die beiden divergierenden Sichtweisen der Konfliktparteien Stück für Stück und sehr detailliert – um sie als parteiisch, irreführend und falsch zu entlarven. Dabei rekurriert er auf Forschungsarbeiten zu den jeweiligen Themen, Menschenrechtsstudien und einer breiten Fülle von Medienberichten wie Medienanalysen. Die Argumente und Belege im Einzelnen hier zu würdigen, würde den Rahmen sprengen. Aber die Hauptergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen.

Was die russische Sicht angeht: Die Invasion war kein "präventiver Krieg", sondern ein Angriffskrieg. So gab es zum Beispiel keine unmittelbare Bedrohung, dass die Ukraine von der Nato aufgenommen werden bzw. Raketen dort stationieren würden – auch wenn die USA darauf drängten. Und trotz der Bürgerkriegs-Verbrechen durch ukrainische Soldaten gegen russischstämmige Ukrainer:innen im Donbass, kann nicht von einem Genozid gesprochen werden. Es gäbe auch keine Belege, dass Selenskyj geplant habe, die von Separatisten kontrollierte Ostukraine zurückzuerobern.

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