Wie Wasser aus dem Feuerwehr-Hydranten

Durch das Internet wird das Angebot an Musik größer - und gleichzeitig stärkt es die unabhängigen Labels

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"Ich höre eine Menge unterschiedlicher Sachen" quasselt Michael drauflos und steckt sich zwei CDs in den Gürtel seiner Jeans, deren Hintern irgendwo in den Kniekehlen hängt. "Es gibt heute so viele Bands da draußen, und sie klingen alle irgendwie gleich. Darum hab' ich von fast jeder Musikrichtung ein bißchen was." Der 23jährige New Yorker gehört zu einer machtvollen Käuferschicht: In den USA werden 40 Prozent aller CDs von unter 25jährigen gekauft. Und die haben eine Auswahl wie nie zuvor.

Laut dem CD Newsletter ICE kamen in den 60er Jahren durchschnittlich 45 neue Alben pro Woche heraus - heute sind es 710. Vorbei die Zeiten, als es nur einige wenige Radios gab, die auch immer nur die gleichen Songs spielten - heute gibt es Klassik-Radio und Soft-Jazz, Techno-Jam und Pop-Mix.

Gleichzeitig formieren sich Hunderte von Bands, die nur auf ihre Chance warten, groß herauszukommen. Die Folge: Auch die großen Plattenlabels haben die Auswahl, welche Musiker sie aufbauen und promoten wollen. Und selbst wer einmal einen Hit landen konnte, ist noch längst nicht aus dem Schneider. Die nächsten Talente stehen schon Schlange, und sie sind für die Labels weitaus billiger als erfolgsverwöhnte Topstars.

Cover von Planet Indy

Für die Bands, die aus dem Raster fallen und es nicht in das Programm von MTV oder VH1 schaffen, gibt es trotzdem eine Plattform, ihre Musik unters Volk zu bringen: Das Internet wird allmählich zum Medium für Talente, die keine Riesen-PR-Maschinerie hinter sich haben.

Besonders unabhängige Labels nutzen diese Möglichkeit. Die Website von Indymusic zum Beispiel, deren Macher in Boston sitzen, vereinigt die unterschiedlichsten Stile. Hunderte von Songs sind per Mausklick zumindest teilweise abrufbar, es gibt direkte Links zu den Künstlern, Tourdaten und ein e-zine mit Besprechungen und Kontaktadressen.

Indymusic stößt auf enormes Interesse. Die Seite verzeichnet laut ihrem Gründer Steve Paul über 100.000 page views pro Woche und gewinnt einen Preis nach dem anderen. Doch die Lobbyisten für unabhängige Musik stehen vor einem Dilemma, an dem schon so mancher neue Trend gescheitert ist: Der Erfolg weckt das Bedürfnis, allmählich Geld zu machen, und das zwingt die Macher zum Aussortieren. Nicht jeder Musiker kann mehr seine Songs auf die Seite stellen: "Es gibt gewisse Qualitätskriterien, nach denen wir auswählen", so Steve Paul. "Wenn man wächst, gelangt man allmählich aus der Reichweite für Obskures".

Indymusic überlegt gerade, wie sich ein kommerzielles Business Modell einführen läßt, ohne daß die Unabhängigkeit ganz dabei flöten geht. "Wir können einfach nicht mehr alles annehmen", seufzt er. "Es ist, als wollte man Wasser von einem Hydranten trinken". Keinesfalls wolle er seine Archive, die für jeden umsonst nutzbar sind, zur Disposition stellen. "Aber was, wenn zum Beispiel Sony kommt, und einige unserer Songs kaufen will?" sinniert er. "Das, was wir jetzt machen, sind doch eigentlich nur Sandkastenspiele".

Der Gefahr, der Macht des Geldes zu erliegen, ist Ronald Wallace dagegen vorläufig noch nicht ausgesetzt. Seine Independent-Music-Site The Creative Musicians Coalition bringt, in harten Dollars gemessen, kaum etwas ein. Etwa zwei Prozent der Platten, die er verkauft, werden über das Internet geordert.

Weitaus besser ist der Aufmerksamkeitwert der Seite: Drei Viertel aller Reaktionen und Anfagen auf Mitgliedschaft kommen über das Interent herein. "Was die Präsentationsmöglichkeiten der Künstler angeht, ist das Web unschlagbar", sagt Wallace. "Und sein Ruf als Darstellungsmedium breitet sich aus wie ein Lauffeuer". Daß die Webpräsenz allein noch lange nicht ausreicht, um aus einem Garagenmusiker einen Star zu machen, darüber ist sich Wallace im Klaren. "Das Internet macht noch keinen Michael Jackson. Es ist lediglich eine von vielen Komponenten".

Ein umschlagbares Plus des elektronischen Networks sind seine Möglichkeiten, Kosten zu sparen, vor allem beim Vertrieb. Wer eine CD ordern will, tippt einfach seine Adresse ein. Das erspart dem Händler die mühsame Adressenaufnahme, und weitere Angebote müssen nicht teuer per Post, sondern können günstig per e-mail geschickt werden. Der Kontakt von Musiker zu Fan ist unmittelbarer und unkomplizierter.

Diese Nische haben auch Marketingfirmen entdeckt. Die Firma Music Marketing Network in Red Bank, New Jersey, wickelt inzwischen rund zehn Prozent aller Fankontakte über das Web ab. MMN bietet seinen Kunden - Musikmanagern und Plattenfirmen - Datenpakete über die Hör- und Kaufgewohnheiten von Musikliebhabern an. Fast vier Millionen Adressen enthält die Kundendatei, Fans werden regelmäßig nach ihren Präferenzen abgefragt, der Rücklauf liegt laut MMN-Präsident Paul Chachko bei insgesamt 15 bis 20 Prozent. Und je mehr per e-mail abgefragt wird, desto größer ist der Rücklauf. "Das Tolle ist", so Chatchko, "daß man einen direkten Eins-zu-eins-Kontakt zu dem Fan hat und so ein Konsumentenprofil aufbauen kann". Ob das Internet dagegen verkaufsfördernd wirkt, bleibt seiner Ansicht nach abzuwarten.

Die Möglichkeiten, sich CDs über das World Wide Web zu bestellen, sind nahezu unbegrenzt. Bei Services wie Cdnow, n2k und natürlich Tower Records kann man in fast alle Alben zumindest kurz reinhören, die Auswahl und Informationsmöglichkeiten sind gigantisch. Dennoch läuft das Geschäft nur langsam an. Tower Records macht heute, zweieinhalb Jahre nach seinem Online-Start, gerade einmal 0,1 Prozent seines Gewinns über das Internet. Mike Ferraci, Präsident der "Direct-to-consumer"-Abteilung bei Tower und Chef des "Pulse"-Magazins, rechnet im Onlinebereich erstmals in diesem Jahr mit roten Zahlen und weist auf die immensen Kosten von Suchmaschinen und Personal hin.

Diese Probleme hat Jeremy Kagan vorerst noch nicht. Der 28jährige Gründer des New Yorker Start-up-Unternehmens EasyCD mailt die Bands, die er in sein Angebot aufnehmen will, noch persönlich in der Hoffnung an, daß sie dann, "wenn sie berühmt sind, sich an mich erinnern". Kagan bietet Websurfern die Möglichkeit, sich aus einer Auswahl von Titeln noch weniger bekannter, aber vielversprechender Bands ihre eigenen CDs zusammenzustellen und bietet ihnen so eine Plattform zur Selbstdarstellung. Kostenpunkt: 10 Songs für 25 Mark.

Die großen Labels sind zwar noch zurückhaltend, EasyCD Rechte zur Verfügung zu stellen , weil sie befürchten, daß sie ihre eigenen Alben dann nicht mehr los werden. Aber die Website würde im Prinzip ja auch ältere Songs dieser Labels promoten, meint Kagan. "Nehmen wir an, ich bin wirklich scharf auf den alten Hit `Come on EileenŽ, und ich kann ihn über EasyCD bekommen. Wer weiß, vielleicht gehen die Leute dann raus und kaufen sich das ganze Album? Es ist eine win-win-Situation."