Wie der Neoliberalismus unseren Alltag durchdringt

Seite 2: Elemente des neoliberalen Werteverständnisses

Um das Eindringen des Neoliberalismus in Wirtschaft, Politik und Alltag ethisch-moralisch zu rechtfertigen, bedurfte es einer Neutaxierung der Wertesysteme. Diese sind zum einen durch Elemente geprägt, die eine Infiltration neoliberalen Gedankenguts ermöglichen und befördern. Zum anderen gibt es bedeutende Gegengewichte. Diese Ambivalenz soll im Folgenden durch sechs Gegensatzpaare beschrieben werden, anhand derer sich die neoliberalen Ziele veranschaulichen lassen.

1. Individuelle kontra gesellschaftliche Interessen. Nach neoliberalem Verständnis ist es müßig, letztere zu bestimmen, da diese sich zwangsläufig aus den Aktivitäten der Individuen ergeben. Indem jeder Bürger eigene Ziele und Wünsche einbringt, nimmt er Einfluss auf gesellschaftliche Entscheidungen. Wer sich engagiert und die nötigen Kompetenzen erwirbt, hat einen größeren Anteil daran. Wer nicht einmal an Wahlen teilnimmt, soll sich später nicht beklagen. Pressure-Group-Aktivitäten und Lobbyismus sind gängige Mittel, ebenfalls Begünstigungen und Drohungen, soweit nicht gegen Gesetze verstoßen wird. Dass sich angesichts der bestehenden Machtverhältnisse kaum das Allgemeininteresse durchsetzt, wird nicht hinterfragt.

2. Freiheit kontra Gemeinsinn. Während die freie Entfaltung zu einem Grundrecht erhoben wird, sind Rücksichtnahme auf die Mitbürger und Verantwortung für die Gemeinschaft lobenswert, aber nicht zwingend. Sie gelten als "sozialer Luxus", der zwar Sympathien einbringt, jedoch dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstieg wenig dienlich ist. Allein Erfolgssuche um jeden Preis führt auf der Karriereleiter nach oben. Wird das Freiheitsstreben Einzelner im sozialen Umfeld als Behinderung oder Belästigung empfunden, dann sind deren Handlungen dennoch zulässig, soweit sie gesetzeskonform erfolgen.

3. Konkurrenzdenken kontra Solidarverhalten. In einem solidarischen Umfeld dient Wettbewerb als Stimulator für sportliche und spielerische wie auch für berufliche und wissenschaftliche Leistungen. Aus neoliberaler Sicht ist er ein prägender Faktor zwischenmenschlicher Beziehungen, bei denen es jeweils um die maximale Durchsetzung von Interessen geht. Zugrunde liegt die Annahme, dass die Gegenseite eigene Ziele mit großer Hartnäckigkeit verfolgt und nur durch maximalen Mitteleinsatz gebremst werden kann. Konkurrenzdenken erschwert solidarisches Verhalten und gemeinsame Aktivitäten, da fehlende Rücksichtnahme und Argwohn ständige Begleiter sind.

4. Marktorientierung kontra staatliche Vorgaben. Marktgesetze gelten als neutral, und da letztlich der Verbraucher die Entscheidung trifft, als demokratisch. Staatlichen Akteuren wird dagegen Selbstsucht und Korrumpierbarkeit unterstellt. Ferner seien sie bestrebt, die Freiheit der Wirtschaftssubjekte einzuschränken. Unterschlagen wird, dass der Markt keine soziale und ökologische Verantwortung kennt. Deregulierung und Privatisierung verändern zudem die Machtverhältnisse zugunsten der Wirtschaftselite und benachteiligen Geringverdiener, die auf staatliche Leistungen angewiesen sind.

5. Gewinnmaximierung kontra Bedürfnisorientierung. Gesellschaftliche Debatten und Entscheidungen über das Güterangebot gelten aus neoliberaler Sicht als Eingriff in die persönliche Freiheit des Konsumenten. Dagegen erscheint Gewinnorientierung als neutraler Regulator, der zugleich wirtschaftliches Engagement fördert. Das darauf beruhende Rentabilitätskalkül würde ein Höchstmaß an Effektivität bewirken, was aus betriebswirtschaftlicher Sicht zutreffen mag. Die unvermeidlichen gesamtgesellschaftlichen Belastungen werden auf die Allgemeinheit abgewälzt.

6. Habgier kontra Genügsamkeit. Das Streben nach persönlichem Reichtum wird als maßgeblicher Motivationsfaktor angesehen. Materielle Anreize erscheinen als unverzichtbar, was mit einem egozentrischen Menschenbild begründet wird. Ausgeschlossen wird, dass jemand aus gesellschaftlichem und ökologischem Verantwortungsgefühl bereit sein könnte, Konsumverzicht zu üben, ohne dass sein Leistungswille beeinträchtigt wird.

Je mehr der Neoliberalismus an Boden gewinnt, desto ausgeprägter sind die jeweils erstgenannten Optionen. Werden sie auf ein erträgliches Maß zurückgestutzt, könne sie durchaus einen positiven Effekt haben, zumal die Bürger des Westens durch neoliberale Leitbilder sozialisiert sind und nicht "über ihren Schatten springen" können.

Dass ein zu starkes Schwenken zu den zweitgenannten Optionen problematisch ist, belegen die Erfahrungen der realsozialistischen Systeme aus der jüngsten Vergangenheit. Welche Gewichtung zwischen den Polen als optimal anzusehen ist, hängt vom jeweils bestehenden Werteverständnis ab.

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