Wie der Neoliberalismus unseren Alltag durchdringt

Seite 3: Grundannahmen der Wertesysteme

Trotz jahrzehntelangen neoliberalen Drucks sind die Wertesysteme des Westens wie auch anderer Kulturkreise zu großen Teilen erhalten geblieben. Dies war zu erwarten, da sie sich über einen längeren historischen Zeitraum entwickelt und bewährt haben und somit eine relative Beständigkeit aufweisen. Wenn sie Veränderungen unterworfen ist, dann in der Regel durch Emanzipationsbestrebungen, wissenschaftliche Erkenntnisse und externe Einflüsse.

Die traditionell bedeutendsten Träger von Wertesystemen sind religiöse Gemeinschaften. Als Basis dienen ferner Ideologien mit humanistischem Hintergrund, wie auch solche, die auf der Annahme zivilisatorischer oder rassischer Überlegenheit beruhen. Manche Wertekonstrukte werden aus mehreren Quellen gespeist. Sie haben zudem spezielle Ausprägungen in nationalen, regionalen, ethnischen und Sprachgemeinschaften.

Während der letzten Jahrzehnte ist der Einfluss der christlichen Kirchen zurückgegangen, weil sich die aufgeklärten und wissenschaftsorientierten Bürger des Westens vom Glauben an die Existenz eines belohnenden und strafenden Gottes abgewendet haben. Dass das entstandene Vakuum leicht durch neoliberales Gedankengut gefüllt werden konnte, hat historische Gründe.

Der aufsteigende Kapitalismus in Europa und Nordamerika beruhte maßgeblich auf einem Menschenbild, das individuellen Leistungswillen und Selbstverantwortung betont. Seinen stärksten Niederschlag fand es in der protestantischen Ethik. Die globale Dominanz des Westens schien die Überlegenheit eines auf Liberalismus und Egozentrismus fußenden Wertekanons zu beweisen, was seine Attraktivität erhöhte.

Als dessen historisches Verdienst ist anzusehen, dass Bürger nicht wegen ihrer Herkunft, Sozialisation oder Überzeugung ausgegrenzt werden. Wenn auch ein Anspruch auf Einzigartigkeit der eigenen Werte erhoben wird, so wird dieser nicht mit religiöser Berufung, zivilisatorischer Überlegenheit oder einer Auserlesenheit der eigenen Rasse begründet.

Mancherorts noch existierende Unterdrückung von Minderheiten wie auch Kreuzzugsmentalität im Kontext imperialer Bestrebungen beruhen auf historischen Relikten, die entweder aus Opportunitätsgründen oder aus liberalem Toleranzverständnis nicht aktiv bekämpft wurden.

Wenn westliche Wertehüter einen Absolutheitsanspruch erheben, dann begründen sie diesen mit der menschlichen Natur, die durch Machtstreben, Selbstbezogenheit und Konkurrenzdenken geprägt sei. Die Annahme, für das egozentrische Menschenbild gebe es eine biologische Erklärung, ist ein zentrales Rechtfertigungselement des neoliberalen Wertesystems. Sie bildet dessen ideologisches Fundament.

Andreas von Westfalen zeigt indes auf, dass es für diese Grundüberzeugung der Neoliberalen keine wissenschaftlichen Belege gibt. Er verweist auf Untersuchungen über das Verhalten von Kleinkindern, wonach Altruismus einen weitaus größeren Stellenwert hat als allgemein angenommen. Ferner berichtet er von hochkomplexen Computermodellen, die die Entwicklungsetappen der Menschheit nachzeichnen und die verbreitete Annahme falsifizieren, in der Evolution hätten sich überwiegend Egoisten durchgesetzt. Westfalen schlussfolgert:

Die in die Tiefe gehende Untersuchung der wahren Natur des Menschen gehört unbedingt wieder in das Zentrum des öffentlichen Interesses und des öffentlichen Diskurses, um endlich weitere schädliche Nebenwirkungen und immer mehr selbst erfüllende Prophezeiungen eines unzutreffenden Menschenbildes zu verhindern.

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