Wie der Westen den Globalen Süden verliert
Globaler Süden nicht mehr bereit, dem Westen einfach zu folgen. Das hat der Krieg in der Ukraine gezeigt. Was hat das mit der Engstirnigkeit westlicher Staaten zu tun? Ein Kommentar. (Teil 1)
Lawrence Summers macht sich Sorgen. Der ehemalige US-Finanzminister hat an der letzten Frühjahrstagung von IWF und Weltbank teilgenommen und festgestellt, dass es beunruhigende Anzeichen dafür gebe, dass die USA "einsam" würden. In Gegensatz dazu schlössen sich andere Mächte zusammen.
Im Netz viral gegangen ist dann sein Zitat von einem Teilnehmer aus einem Entwicklungsland, der Summers mit der Erklärung überraschte: "Von China bekommen wir einen Flughafen, von den USA Belehrungen".
"Die meisten Länder, vor allem die Entwicklungsländer, wissen also ganz genau, was mehr zu ihrer Entwicklung beiträgt", kommentiert die chinesische Global Times diesen Vorgang.
Treffender lässt es sich kaum formulieren. Denn es sind nicht nur die wirkungsvollen Entwicklungsanstrengungen vor allem Chinas, denen der Westen nichts entgegenzusetzen hat. Es sind Engstirnigkeit, Feindseligkeit und messianischer Eifer, die dazu führen, dass westliche Politiker die Interessen des Globalen Südens und sogar die bedeutender Partner wie China, Brasilien, der Türkei oder Indiens ignorieren.
Verengte "Der Westen gegen den Rest"-Debatte
Die Haltung "Der Westen gegen den Rest", die sich durch den Ukraine-Krieg im Westen ausgebreitet hat, zeigt dies in geradezu mustergültiger Weise. Plötzlich werden sämtliche Länder außerhalb der NATO nur noch nach dem Schema bewertet "unterstützt die Ukraine oder ist gegen uns".
Namentlich die deutsche Außenministerin hat sich in letzter Zeit regelmäßig damit unmöglich gemacht, weil sie von den Ländern, die sie besucht hat, eine Unterordnung unter die strategischen Ziele der NATO gefordert hat – entgegen deren wirtschaftlichen Interessen. Denn nichts anderes bedeutet im Kern der Appell etwa an Indien, die von den meisten NATO-Ländern einseitig verhängten Wirtschaftssanktionen gegen Russland mitzutragen.
So etwas kommt nicht gut an. "Während die westlichen Verbündeten einig sind, dass Russland in einem gigantischen Kampf zwischen Demokratien und Autokratien vernichtet werden muss, ruft der skeptische Rest, vor allem aus den Entwicklungsländern, zu Frieden und Kompromiss auf", kommentiert die South China Morning Post. Ein "chaotischer Frieden" sei einem "monströsen Krieg" allemal vorzuziehen.
Dieser Meinung ist offensichtlich auch ein großer Teil der Öffentlichkeit im Süden. Der Europäische Rat für Auswärtige Beziehungen hat im Februar 2023 Umfrageergebnisse veröffentlicht, die das eindeutig belegen. "Die Bürger in China, Indien und der Türkei bevorzugen ein schnelles Ende des Krieges, selbst wenn die Ukraine Gebiete abtreten muss."
Da hilft es nicht viel, auf der eigenen Position der Stärke zu beharren, wie es etwa Angela Stent von der Brookings Institution, einer Denkfabrik in Washington D.C., tut:
Der Rest mag mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen, aber es ist die ärmere Hälfte, die aus vielen weniger entwickelten Ländern besteht. Das kombinierte BIP, die Wirtschaftskraft und das geopolitische Gewicht des Westens überwiegen bei weitem den Einfluss der Länder, die sich geweigert haben, die Invasion zu verurteilen oder Russland zu sanktionieren.
Zumindest die pekuniären Aspekte dieser Ausführungen sind unbestreitbar und das wird auch sicher noch eine lange Zeit so bleiben. Ob aber Delhi seinen Kurs ändern wird, nur weil die USA das für nötig halten, muss bezweifelt werden.
Bei Stent klingt das so: "In Zukunft wird Indien ein Gleichgewicht zwischen seinen traditionellen Sicherheitsbeziehungen zu Russland und seiner neuen strategischen Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten im Quad herstellen müssen."
Da ist er wieder, der belehrende Tonfall von Leuten, die scheinbar ganz genau wissen, wo der Bartel den Most holt. Ihnen fällt scheinbar nicht ein, dass Delhi die USA samt militärischer Drohkulisse vielleicht gar nicht benötigt, um seine Schwierigkeiten mit Peking zu bearbeiten. Indien und China können sich etwa problemlos und ungestört vom westlichen Medienhype in der Shanghai Cooperation Organisation zusammensetzen, um ihre Differenzen zu verbessern.
Es geht um viel mehr als um die Ukraine
Aber es geht um viel mehr als um geostrategische Ziele, Farbrevolutionen, Kriege und Waffen. Denn auch in anderen Bereichen der Zusammenarbeit hat sich der Westen in den vergangenen Jahren nicht mit Ruhm bekleckert. Die folgende Aufzählung, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, soll helfen, einige schwerwiegende Verfehlungen westlicher Politik der letzten Jahre ins Gedächtnis zu rufen:
- 2018 kündigen die USA ohne Not und einseitig das Atomabkommen mit dem Iran (und fünf weiteren Garantiestaaten).
- Mit fadenscheinigen Argumenten verwehrt Großbritannien Venezuela die Repatriierung von 31 Tonnen Gold bis heute.
- Seit 2019 verhinderten die USA die Neubesetzung des Berufungsgerichts der Welthandelsorganisation, das seitdem keine internationalen Handelsdispute mehr beilegen kann.
- 2022 "konfiszierten" die USA sieben Milliarden US-Dollar afghanischer Devisenreserven, die in den USA gelagert waren.
- 2022 entwertete Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel das Minsk-Abkommen in einem Interview zu einem westlichen Manöver, das lediglich dazu diente, der Ukraine Zeit zum Aufrüsten zu verschaffen.
- Im Covid-19-Desaster machte sich der Westen der unterlassenen Hilfeleistung gegenüber dem Globalen Süden schuldig.
- Der Anteil der Weltwirtschaft, der von – fast ausschließlich westlichen – Sanktionen betroffen ist, steigt stetig. Eine kürzlich veröffentlichte Metastudie bezifferte diesen auf mittlerweile 29 Prozent.
Es kann also nicht verwundern, dass die sogenannte "regelbasierte liberale Weltordnung" in Misskredit geraten ist. Denn bereits der Begriff wurde von westlichen Spin-Doktoren geprägt, weil man sich im Westen schon längst weit vom Völkerrecht als Basis zwischenstaatlichen Handelns verabschiedet hatte.
Dabei geht es im Kampf um die Köpfe, Herzen (und Portemonnaies) im Globalen Süden keineswegs "um die Heuchelei des Westens, wenn er über Demokratie und Autokratie oder über Werte und die regelbasierte Ordnung predigt", wie die South China Morning Post schreibt.
Viel entscheidender sei, dass der Globale Süden immer noch und ständig damit beschäftigt sei "herauszufinden, wie man in der bestehenden liberalen Ordnung realistischerweise überleben kann", während der Westen im "Metaversum seiner Fantasie" schwebe, warnt die führende Hongkonger Zeitung, die dem chinesischen Multimilliardär Jack Ma gehört.
Wer das für übertrieben hält, mag sich zum Beispiel einmal fragen, was angesichts der dreisten Übergriffe gegen Afghanistan und Venezuela derzeit wohl in den Zentralbanken kleinerer und mittlerer Entwicklungsländer diskutiert wird.
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