Wie die Finanzdaten der Euroländer manipuliert werden
Eurostat hat erstklassige und objektive Daten - aber niemand liest sie
Wer erinnert sich noch an die Äußerungen hilfloser Bundestagsabgeordneter vor der Abstimmung zum Euro-Rettungsschirm? Einige Szenen aus dem Magazin Panorama vom 30.09.2011 sind noch online. Die Informationen und Zahlen, die Abgeordnete zu den Finanzen der 17 Euro-Staaten erhalten, stammen allerdings nicht von der Statistikbehörde Eurostat, sondern von Redakteuren in Nachrichtenagenturen und Medien, vor allem aber von Wirtschaftsforschungsinstituten und Aufbereitern der Daten etwa in Bundesbank und Finanzministerium. Was geschieht dort mit den Daten von Eurostat?
Wie auf Telepolis vor kurzem berichtet, veröffentlicht die US-Regierung freizügig ihre Schätzungen zu den Staatsfinanzen. Dass diese Veröffentlichungen weitgehend unbekannt sind und nicht zu Artikeln und Debatten führen, kann also nicht daran liegen, dass die Zahlen geheim gehalten werden.
Auch Eurostat bietet dem interessierten EU-Bürger eine Vielzahl von Statistiken zu den Staatsfinanzen der Euroländer. So kann man etwa einen Bericht zu den Steuereinnahmen von 27 EU-Ländern herunterladen. Dort werden die Staatseinnahmen in Prozent des Bruttoinlandsproduktes dargestellt. Auf einer Chart sehen wir, wie das rückgehende Wachstum des BIP auch die Steuerquote der EU-Staaten senkt. Diese Chart ist kein Zufall: Die Staatseinnahmen, so die Botschaft dahinter, hängen in erster Linie vom allgemeinen Wirtschaftswachstum ab. Diese Annahme kommt aber nicht von Eurostat, sondern von der Zunft der Volkswirte.
Die Annahme ist falsch, wird aber nicht hinterfragt
Die Vereinigten Staaten von Amerika etwa weisen seit Jahrzehnten ein Wachstum ihres Bruttosozialprodukts aus. Allerdings sind ihre Staatseinnahmen dabei nie mitgestiegen. Im Gegenteil: Die Einnahmen des Staates sanken derart, dass bis zu 50 Prozent des Staatsbudgets durch Schulden finanziert werden mussten. Heute sind die USA das am höchsten verschuldete Land der Welt.
Auch Belgien galt jahrelang als Musterbeispiel für sinkende Staatsschulden - obwohl Belgien seine Schulden immer nur erhöhte. Das Rechenkunststück der Volkswirte bestand darin, die Schulden immer nur in Prozent des BIP zu messen. Was in keiner Unternehmensbilanz zulässig ist, nämlich eine Fließgröße (das BIP) in Relation zu einer Fixgröße (die Staatsschulden) zu rechnen, ist in der VWL Standard. Obwohl die Annahme, ein steigendes BIP führe auch zu einer Steigerung der Staatseinnahmen ständig widerlegt wird, hat sie im Maastricht-Kriterium sogar einen offiziellen Status erhalten. Danach solle ein Staat nicht höher als 60 Prozent seines BIP verschuldet sein. Die Neuverschuldung solle nicht über 3 Prozent des BIP liegen.
Cui bono? Zauberei in der Frankfurter EZB
Wer hat von diesen falschen Annahmen bei der Interpretation statistischer Daten eigentlich Vorteile? Es wäre doch nichts dagegen einzuwenden, Staatsschulden gegen staatliche und private Vermögen zu rechnen und die Staatseinnahmen als einzige Quelle für Zins- und Tilgungszahlungen heranzuziehen. Beides geschieht nicht. Auch nach über zwei Jahren erhält bei Eingabe der Begriffe "Tilgung" und "Staatsschulden" in Google nach Wikipedia nur einen Artikel von Telepolis http://www.heise.de/tp/artikel/33/33657/1.html , in dem dieser Vergleich erstmals angestellt wurde. Zahlreiche Medien verweigerten damals die Veröffentlichung der Zahlen, die doch auf den staatlichen Veröffentlichungen beruhen.
Der Vorteil, solche Vergleiche nicht anzustellen, besteht eigentlich nur darin, dass der Eindruck aufrechterhalten wird, Staatsschulden würden zur Förderung des Wirtschaftswachstums aufgenommen, nicht zur Umverteilung von Vermögen und Staatseinnahmen. Würden nämlich die Staatsschulden in Beziehung zu Vermögen oder Staatseinnahmen gesetzt, so wären ja theoretisch Vermögensabgaben, höhere Steuern oder Sparmaßnahmen bei Subventionen ein möglicher Weg, Staatsschulden zu vermindern oder zu tilgen.
Dies halten die Volkswirte ganz offensichtlich nicht für sinnvoll. So schrieben die Ökonomen der Europäischen Zentralbank in der von der INSM herausgegebenen "Ökonomenstimme", die Senkung der Prozentzahl der Schulden zum BIP sei Beweis für eine "Schuldenreduktion". Als Musterländer führten sie neben Belgien auch Irland, Portugal und Spanien an. Die Autorin Dr. Christiane Nickel leitet übrigens die Abteilung für "Fiscal Policy" der Europäischen Zentralbank in Frankfurt.
Psychologisch wichtige Kosmetik: 80 Prozent klingen besser als 215 Prozent
Wenn Staaten mit 80 oder 90 Prozent ihres BIP verschuldet sind, klingt das nicht so dramatisch. Ein Jahresverlust sozusagen. Zuletzt hat die Tagesschau die wöchentlich seit Jahrzehnten verbreiteten Zahlen als Grafik veröffentlicht. Als Quelle wird die "Europäische Kommission" genannt - und tatsächlich, im Jahresbericht der Europäischen Kommission werden - obwohl Eurostat die Zahlen erhebt - keine Vergleiche von Staatseinnahmen und Staatsschulden vorgenommen.
Wer also die Frage gar nicht stellt, könnte den Verdacht hegen, die EU verschweige die Zahlen. Die Nachfrage bei Eurostat aber ergibt, dass dort jedes Quartal die aktuellen Staatsschulden der 27 EU-Staaten veröffentlicht werden. Die freundliche Mitarbeiterin sendet sogar den Link. Die Staatseinnahmen werden von Eurostat ebenfalls, aber mit großer Verzögerung veröffentlicht. So liegen im März 2013 erst die Einnahmen für 2011 vor.
Dennoch ist es auf dieser Basis möglich, erstmals die Staatsschulden in Prozent der Staatseinnahmen darzustellen und immerhin bis zum 3. Quartal 2012 zu verfolgen.
Das Ergebnis
Und die Lehre?
Wer diese Zahlen liest, könnte bemerken, dass Zypern unter den Euro-Ländern den dramatischsten Schuldenanstieg zu verzeichnen hat. Zur Gesamtbeurteilung von Staatsschulden sind jedoch die Staatseinnahmen die wichtigste Größe, werden doch Zins wie Tilgung ausschließlich aus diesen bedient.
Das erstaunlich gute Abschneiden der östlichen Staaten Europas zeigt, dass diese zwar offensichtlich bereits funktionierende Steuersysteme eingerichtet haben, aber die Verschuldung noch kein dramatisches Ausmaß angenommen hat. Sie könnten also noch im besten Sinne eine Schuldenbremse drücken - wenn sie nicht durch den Rettungsschirm und die EZB in eine Solidarhaftung genommen würden. Der wegen seiner Entscheidung gegen den Rettungsschirm abgesetzte slowakische Parlamentspräsident Richard Sulik stellte bei seinem Nein fest, dass es eine "perverse Solidarität" sei, wenn die fleißigen Slowaken mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 800 Euro monatlich die viel reicheren Griechen retten sollten.
Auf jeden Fall regen die neuen Zahlen dazu an, die europäische Finanzpolitik neu zu betrachten. Vielleicht wirken Kredite effektiver in den bescheidenen Ostländern als zur Bankenrettung von Immobilienspekulationen in Spanien oder zur Sicherung überbezahlter Beamtenstellen in Griechenland, Frankreich und anderswo?