Wie faktenbasiert sind die Demoverbote der letzten Tage?
Während so viel von wissenschaftsorientierter Politik die Rede ist, fragt kaum jemand nach den empirischen Befunden
Die Angehörigen und Überlebenden des rassistischen Amoklaufs vom 19. Februar 2020 in Hanau hatten es wegen des Corona-Lockdowns besonders schwer. Sie konnten sich monatelang nicht treffen, auch das gemeinsame Trauern war massiv erschwert. Daher bereiteten sie für den 22. August eine bundesweite Großdemonstration vor, mit der mehr als 6 Monate nach dem rassistischen Anschlag den 9 Opfern gedacht und ein klares Zeichen gegen staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus gesetzt werden sollte.
Über Wochen wurde mobilisiert und vorbereitet. Daher war die Enttäuschung groß, als die Großdemonstration wegen der steigenden Coronafallzahlen vom Hanauer Oberbürgermeister abgesagt wurde. Lediglich eine Kundgebung mit 249 Teilnehmern wurde erlaubt.
Die für die Entwicklung der Pandemie wichtige Kennziffer von Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in den letzten sieben Tagen sei zuletzt auf 49 gestiegen, berichtete Oberbürgermeister Kaminsky. Es sei daher nicht zu verantworten, mit einer Demonstration von 3000 bis 5000 Menschen womöglich zur weiteren Ausbreitung der Pandemie beizutragen.
Doch von antirassistischen Gruppen gab es auch berechtigte Kritik an der Absage. "Wir dürfen hier nur mit 249 Menschen trauern, während um uns herum in der Fußgängerzone tausende Menschen in aller Ruhe einkaufen oder draußen sitzen und Wein trinken", rief eine Organisatorin der Gedenkaktion.
"Wir sind keine Corona-Rebellen"
Moderater äußerten sich die Organisatoren des Bündnisses 19. Februar in einer Pressemitteilung:
Wir bedauern diese Entscheidung, weil wir wochenlang ein Hygiene-Konzept gemeinsam mit Stadt und Ordnungsamt entwickelt haben und den erwarteten Teilnehmer*innen ein verantwortungsvolles Verhalten zugetraut hätten. Die Absage am Freitagabend lässt uns keine rechtlichen Möglichkeiten, die Entscheidung prüfen zu lassen.
Initiative 19 Februar
Dann folgt ein Absatz, der in den letzten Wochen so ähnlich wohl häufiger zu hören.
Dennoch sind wir keine Corona-Rebellen und folgen der Entscheidung. Wir werden morgen nicht gegen eine Corona-Verfügung mobilisieren. Die Mobilisierung nach Hanau ist abgesagt.
Initiative,19 Februar
Mit dem Statement distanziert man sich schon mal vorsorglich und verzichtet auf die Wahrnehmung der Grundrechte. Ein Demoverbot ist ein massiver Grundrechtseingriff. Dass es erst am Vorabend der geplanten Demonstration ausgesprochen wurde und damit juristische Schritte dagegen verunmöglichst wurden, ist noch einmal ein zusätzlicher Eingriff.
Es ist ja nicht das erste Mal, dass solche Maßnahmen von den Staatsapparaten angeordnet wurden. Es ist aber schon fast einmalig, dass sie so wenig Widerspruch erfahren. Dabei gibt es doch am Beispiel des Hanauer Demoverbots einige Fragen: Warum wurde trotz eines akribischen Hygienekonzepts eine Demo im öffentlichen Raum verboten? Warum erfolgte das Verbot so kurzfristig, dass juristische Maßnahmen nicht mehr möglich waren? Diese Frage ist auch deshalb besonders interessant, weil in der letzten Zeit Gerichte manche von den Behörden beschlossenen Einschränkungen als unverhältnismäßig zurückgewiesen haben.
Nicht nur in Hanau wurde das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit in diesen Tagen eingeschränkt. Auch in Hamburg durfte Ende letzter Woche eine Demonstration in Gedenken an den rassistische Gedenkdemo nicht loslaufen, weil statt der 500 über 800 Menschen teilnehmen wollten. In der Hamburg-Ausgabe der Taz gab es dazu eine treffende Kritik:
Auf Fotos ist zu sehen, dass am Mittwoch nahezu alle Teilnehmer*innen Masken trugen - nicht dass Vermummung im linken Spektrum je ein Problem gewesen wäre. Wenn sich die Demonstrant*innen also an die Regeln halten, hat die Polizei keinen Grund, dieses Gedenken zu behindern. Sie wäre - angesichts der Debatten um rassistische Strukturen innerhalb der Polizei - besser beraten, eine solche Demo zu unterstützen.
Andrea Maestro
Warum nicht aus Erfahrungen lernen?
Wurde nicht vor wenigen Wochen von vielen Linken und Linksliberalen beruhigend erklärt, es gäbe doch nun wirklich keinen Grund mehr, sich über die Coronamaßnahmen und autoritäre Staatlichkeit aufzuregen, weil doch die Normalität zurück sei. Wo ist denn der autoritäre Staat, den ihr beschworen habt, wurde in Richtung der Kritiker gefragt. Dabei zeigten die Demoverbote in Hamburg und Hanau - und es sind nicht die einzigen -, dass diese neue Normalität eben weiter ein Notstandsstaat ist. Und es zeigt sich, dass ein Großteil der Linken aus den letzten 6 Monaten keine Konsequenzen gezogen hat.
Es war ja verständlich, dass Mitte März viele erst einmal abwarteten und sich fragten, ob die Maßnahmen tatsächlich aus medizinischen Gründen nötig sind. Nun haben wir aber ein halbes Jahr später eine Menge Erfahrungen gesammelt. Dazu gehörten auch die Großdemonstrationen Ende Mai/Anfang Juni nach dem Tod von George Floyd. Daher ist es auch so fragwürdig, wenn die Initiative 19. Februar explizit betont, dass sie keine Coronarebellen sind. Waren die vielen meist jungen Leute denn Corona-Rebellen, die Ende Mai gegen Rassismus auf die Straße gingen? Damals schien es, als hätten auch manche, die für die strikteste Einhaltungen der Coronaregeln eingetreten sind, Verständnis dafür, dass die Menschen gegen Rassismus demonstriert haben.
In diese Tradition hätten sich doch auch die Demonstranten von Hanau stellen können, ohne den Popanz des Corona-Rebellen aufzubauen. Vor allem haben die Demonstrationen von Mai/Juni auch gezeigt, dass es aus medizinischen Gründen keine Notwendigkeit für die Demoverbote gibt. Es wurde damals gesagt, dass sich in zwei Wochen erweisen werde, ob die Coronazahlen ansteigen. Danach wurde das Thema nicht mehr aufgegriffen. Niemand hat behauptet, dass es diesen Anstieg gegeben hat. Das galt übrigens auch für zahlreiche weitere Demonstrationen in den letzten Wochen.
Auch die Demo der Corona-Maßnahme-Kritiker hatte wohl nicht zu einer signifikanten Erhöhung der Corona-Zahlen geführt. Das kann man konstatieren, ohne ein Coronarebell zu sein. Die Demonstration stand aus verschiedenen Gründen unter starker Beobachtung und Kritik. Es wäre sicher schon längst ein großes Thema geworden, wenn nachgewiesen werden worden wäre, dass dadurch die Coronafallzahlen angestiegen sind. Daraus kann man doch immerhin den Schluss ziehen, dass es nicht der Ausdruck einer faktenbasierten Politik ist, wenn jetzt wieder vermehrt Demonstrationen verboten werden. Durch die real schon stattgefundenen Demonstrationen haben wir schließlich empirisches Material, um Schlussfolgerungen ziehen zu können. Es wäre jetzt die Sache derer, die Demoverbote verteidigen, zu beweisen, dass durch die unterschiedlichen Demonstrationen der letzten Wochen die Corona-Zahlen gestiegen sind.
Restart 19 oder die Konzerte im Ausnahmezustand
Die Kulturindustrie, die unter den andauernden Restriktionen leidet, hat kürzlich ein aufwendiges Experiment gestartet, um überhaupt erst einmal Fakten über die tatsächliche Gefahr von Corona-Übertragungen bei Großkonzerten zu sammeln. Das Experiment Restart-19 soll zeigen, unter welchen Bedingungen Konzerte, Hallensport und andere Massenevents wieder möglich sein können.
Dicht gedrängt und in strömendem Regen warteten am Samstagmorgen mehr als tausend Probanden darauf, in die Arena Leipzig eingelassen zu werden. Für Sicherheitsabstände sorgten nur ein paar Regenschirme. Im Namen der Wissenschaft wollten sich die Wartenden ein Gratis-Konzert des Musikers Tim Bendzko anschauen und die Handballer des SC DHfK Leipzig treffen.
Vereinsgeschäftsführer Karsten Günther hatte das Projekt gemeinsam mit Stefan Moritz, dem Leiter der Klinischen Infektiologie der Universitätsmedizin Halle, und dem Geschäftsführer der Arena Leipzig, Matthias Kölmel, auf die Beine gestellt. Die Teilnehmerzahl war geringer als erwartet, was sicher auch darauf zurückzuführen ist, dass viele einem Konzertbesuch unter Laborbedingungen wenig abgewinnen können.
Dass dieses Experiment notwendig war, zeigt aber auch, wie wenig wissenschaftliche Fakten über die Coronapandemie und ihren Verlauf es bisher überhaupt gibt. Es wird vielmehr deutlich, dass es wenig Fakten und viele Vermutungen und Ängste gibt, die in der Coronapolitik eine große Rolle spielen. Das Experiment, das die Fakten liefern soll, wird von der Veranstaltungsindustrie finanziert, weil die eben nicht mehr auf Einnahmen verzichten will, ohne dass es einen faktenbasierten Beweis für die Notwendigkeit von Konzertverboten gibt.
Bei Demonstrationsverboten zahlt man mit dem Verlust von Grundrechten. Es gibt keine starken Lobbyorganisationen, die jetzt einfordern, doch einmal auf wissenschaftlicher Grundlage zu prüfen, ob Demoverbote notwendig sind. Anders als in der Konzertbranche wäre hier kein Experiment nötig. Man müsste nur die Ergebnisse der Demos der letzten Wochen auswerten, die antirassistischen Proteste nach dem Tod von George Floyd ebenso wie die Großdemonstration vom 1. August.
Da geht es nicht um die Inhalte und die Frage, ob man die mag oder nicht. Es geht einfach darum, ob es empirische Belege gibt, dass durch das Demonstrationsgeschehen sowie die An- und Abreise die Corona-Zahlen in die Höhe gegangen sind oder nicht. Diese Frage müsste doch eigentlich in der öffentlichen Diskussion eine zentrale Rolle spielen, weil in der letzten Zeit doch so viel von faktenbasierter Politik die Rede in unterschiedlichen Zusammenhängen die Rede ist.
Wie faktenbasiert waren die Proteste gegen Stuttgart 21?
Auf einer Demonstration der Coronamaßnahmegegner waren auch Menschen, die Symbole der Stuttgarter S21-Bewegung trugen. Sofort distanzierte sich ein langjähriger S21-Gegner in der Wochenzeitung Kontext:
Ich war einmal sehr stolz auf unsere Bewegung, weil sie die fachliche Expertise und die Logik an erste Stelle bei ihrer Beurteilung eines fehlmotivierten Großprojekts setzte. Und nun sehe ich auf Tagesschau.de das kleine Vorschaubild zu einem Artikel über die gestrige große Berliner "Freiheits"-Demo. Und darauf ganz prominent vorne dran ein Demonstrant mit unserem Signet. Das macht mich sprachlos, wütend und traurig zugleich.
Klaus Gebhard, Parkschützer
Nun müsste man sich doch eher fragen, wieso der Aktivist einer losen dezentralen Bewegung so berührt davon ist, dass das Signet dieser Bewegung auch in Zusammenhängen getragen wurde, in die er sich nicht stellen will. Schließlich war ja der kleinste gemeinsame Nenner bei den S21-Bewegung die Ablehnung eben des Bahnhofs. Bei vielen anderen Fragen gehen die Meinungen auseinander, wohl auch in der Beurteilung der Corona-Maßnahmen. Doch Gebhard begründet dann, warum er sich trotzdem angegriffen fühlt:
Wie konnten und können nur Mitstreiter aus unseren Reihen das jahrelang hochgehaltene und zu Recht auch von allen Politikern eingeforderte Primat der Wissenschaftlichkeit mit Auftauchen eines pandemiefähigen Virus so schnell komplett über Bord werfen? Nur weil ein bis zwei Handvoll Ärzte oder Ex-Ärzte den Erfahrungsberichten und Warnungen von zehntausenden Ärzten und Wissenschaftlern in aller Welt widersprechen, kann man die Einschätzungen dieser zwei Handvoll Abweichler doch nicht so mir nichts dir nichts für "wissenschaftlich gesichert" halten und ihnen ganz ohne die sonst üblichen kritischen Rückfragen blindlings folgen - noch dazu in dubiosester Demozugsgemeinschaft!
Klaus Gebhard, Parkschützer
Da ist also wieder das Primat der Wissenschaftlichkeit, das angeblich die S21-Bewegung so hochgehalten hat .Das galt sicher für die Wissenschaftler in ihren Reihen. Aber die großen Mobilisierungen in Stuttgart waren nicht ein Ergebnis von Fakten und Wissenschaft. Ein Großteil der Menschen wollte eben den alten Bahnhof behalten, was viel mit Gefühl, aber wenig mit Wissenschaft zu tun hat. Eine andere Motivation für den Protest war die Ablehnung einer jahrelangen Großbaustelle mitten in der Stadt, die jetzt jeder Stuttgart-Besucher beobachten kann.
Hier dient der Verweis auf die angeblich eigene Wissenschaftlichkeit als Abgrenzungsmotiv, hat aber wenig mit den Fakten zu tun. Stuttgart 21 war zeitweilig eine Massenbewegung, weil Menschen es geschafft haben, sich gegen eine von der Politik vollzogene Entscheidung zu wehren. Die massive Polizeigewalt im Stuttgarter Schlossgarten vor fast 10 Jahren hat dann einen Zustand geschaffen, wo es sogar für einige Wochen möglich schien, dass der Bahnhofsbau kippt. Doch die Staatsapparate bekamen die Situation wieder unter Kontrolle, gerade mit sich wissenschaftlich gebenden Dialogrunden unter Vorsitz des Konservativen Heiner Geissler Die CDU verlor in Baden-Württemberg die Hegemonie und die Grünen setzten dann nach einer Volksabstimmung das Bahnhofsprojekt um.
Wenn dabei etwas wissenschaftlich war, dann die Herrschaftsstrategie, mit Mitmachfallen und Dialogrunden eine Massenbewegung um ihren möglichen Erfolg zu bringen. Welcher Bahnhof gebaut wurde, war primär keine Frage der Wissenschaft. Wissenschaftliche Aspekte spielten allerdings darin eine Rolle. Es war aber eine politische Positionierung, ein bestimmtes Projekt nicht haben zu wollen.
Fetisch Wissenschaft
Hier wird auch ein Problem deutlich, dass heute in vielen Protestbewegungen, besonders in der Klimabewegung immer wieder auftritt: die Fetischierung der Wissenschaft. Besonders in der Klimabewegung wird so getan, als ergäbe sich ohne weitere Diskussionen aus bestimmten wissenschaftlichen Ergebnissen alternativlos eine bestimmte Politik. Damit wird aber die Herrschaft von Technokraten und scheinbar unpolitischen Expertenrunden vorbereitet, die allerdings Macht- und Klasseninteressen im Gewande einer angeblich wissenschaftlich alternativlosen Politik betreiben.
Das ist kein Plädoyer für eine Absage an die Wissenschaft. Doch es müsste die kapitalistische Formung der Wissenschaft kritisiert werden. Der Philosoph Herbert Marcuse schrieb bereits in den 1930er Jahren in seinen Schrift "Kultur und Gesellschaft":
Wissenschaftlichkeit als solche ist niemals schon eine Garantie für die Wahrheit, und erst recht nicht in einer Situation, wo die Wahrheit so sehr gegen die Tatsachen spricht und hinter den Tatsachen liegt wie heute.
Herbert Marcuse
Das scheint auch fast 90 Jahre später ein Antidot gegen den Fetisch von der wissenschaftsbasierten Politik, in einer Zeit, wo sich kaum Menschen fragen, auf welchen wissenschaftlichen Fakten Grundrechtseinschränkungen eigentlich beruhen.
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