Wie geht man in den Niederlanden mit Corona-Patienten um?

Seite 2: Auch über 70jährige würden noch auf Intensivstationen aufgenommen

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Von der Spoel erklärte gegenüber de Volkskrant, dass es keine Altersgrenze für die Aufnahme auf Intensiv gebe. "Als Ärzte werden wir niemals sagen: Sie sind über 70 Jahre alt, deshalb dürfen Sie nicht mehr auf die Intensivstation." Das seien "indische Geschichten". "Wir ziehen niemals solche Grenzen."

Grundlage für die Entscheidung, jemanden intensivmedizinisch zu behandeln, seien viele Faktoren, z.B. ob der Patient andere Krankheiten habe, wie anfällig und gebrechlich der Mensch sei und wie hoch seine Lebenserwartung. "Wir schätzen ein, wie sinnvoll es ist, jemanden wochenlang zu beatmen."

Realistische Entscheidungen treffen

Der Schwellenwert könne sich leicht erhöhen, erklärte Von der Spoel. Die Ärzte würden in ihrer Einschätzung ebenfalls berücksichtigen, dass Covid-19 auch bei gesunden Menschen so schwerwiegende Auswirkungen habe, dass es für schutzbedürftige Patienten noch schwieriger sei.

Wir versuchen, realistische Entscheidungen zu treffen. Aber unsere Entscheidungen sind auch menschlich. Wir behandeln nur, wenn es Sinn macht.

Hans van den Spoel

Ärzte berichten, dass Coronapatienten auffallend lange auf der Intensivstation beatmet werden müssen.

Drei Viertel der verstorbenen Corona-Patienten kamen nicht auf die Intensivstation

De Volkskrant veröffentlichte am 19. März ein Interview mit Diederik Gommers, dem Vorsitzenden der Niederländischen Vereinigung Intensivmedizin (NVIC) und Leiter der Intensivstation am Erasmus Medisch Centrum. "Wenn der Patient sehr alt ist, ein schlechtes Herz hat und in den letzten Monaten drei Operationen hatte, kann der Arzt manchmal in Absprache mit der Familie entscheiden, dass es nicht sinnvoll ist, ihn auf der Intensivstation zu behandeln", sagt Gommers.

Wir haben einen Patienten, der jetzt in die vierte Woche eintritt. Bei anderen Patienten dauert es länger als die zehn Tage einer "normalen" Lungenentzündung. Man muss vorher in angemessener Form sein, um die Intensivstation richtig zu verlassen.

Diederik Gommers

Damit meint er, dass nach einer Beatmung durch Maschinen auf der Intensivstation die Patienten sozusagen entwöhnt werden müssen, sich erst wieder an das Selber Atmen gewöhnen müssen, Atemmuskulatur aufbauen. Das dauert.

"Es ist ein Angriff, so lange am Beatmungsgerät zu hängen"

Die Muskelmasse von Intensiv-Patienten, einschließlich der Atemmuskeln, nehme täglich um einige Prozent ab. Nach zwei oder drei Wochen auf Intensivstation beginne dann ein langer Rehabilitationsprozess, auch bei jungen Beatmungspatienten. "Das kann ein halbes bis ein Jahr dauern und oft wird man nicht mehr der Alte", erklärt Gommers der niederländischen Zeitung. Gommers bemüht sich, die Kranken auf Krankenhäuser im ganzen Land zu verteilen, um die Einrichtungen in Brabant zu entlasten.

Handbuch für Katastrophen: Auswahl von Patienten im Krisenfall

Auch für Krisenszenarien hat sich die Ärzteschaft gerüstet. Die Niederländische Vereinigung für Intensivmedizin (NVIC), der Gommers vorsitzt, beschreibt in einem Anfang März 2020 aus aktuellem Anlass erschienenen "Draaiebook Pandemie", auf Deutsch etwa "Richtlinien für eine Pandemie", was bei einem "Code rot" oder, noch schlimmer, "Code schwarz" einer Pandemie passieren soll:

"Triage", eine Auswahl der Patienten, ist "eine extreme Notfallmaßnahme", heißt es, "und sollte so lange wie möglich vermieden werden. Aber: "Sollte die Regierung irgendwann eine nationale Krise erklären, lautet die Regel: Patienten, deren Überlebenschancen durch die Aufnahme in die Intensivstation am stärksten steigen, werden zuerst behandelt", zitiert de Volkskrant die Richtlinien. Wenn dies nicht festgestellt werden könne, könne ein Losverfahren oder die Regel "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst" verwendet werden.

Es ist möglich, dass einige Patienten zu viel Intensiv-Versorgung benötigen. Es kann vorkommen, dass die weitere Behandlung auf der Intensivstation abgebrochen werden muss, um die Behandlung vieler weiterer Patienten zu ermöglichen. Dies ist eine sehr schwierige Entscheidung, basiert jedoch auf dem Prinzip, möglichst vielen Patienten Gutes zu tun.

Während einer Pandemie werden Patienten mit einer Überlebenschance von weniger als 20 Prozent nicht mehr auf die Intensivstation aufgenommen. "Ich hoffe, dass es nicht dazu kommt", zitiert de Volkskrant den Intensivmediziner Van der Spoel, "weil die Anzahl der Intensiv-Betten in naher Zukunft erheblich aufgestockt wird." Das Wichtigste sei jetzt, die Anzahl der Neuinfektionen so gering wie möglich zu halten.

Die meisten starben im Pflegeheim, nicht im Krankenhaus

Die meisten der bislang verstorbenen niederländischen Koronapatienten kamen gar nicht erst auf eine Intensivstation. Von den 179 bis zum 22. März insgesamt Verstorbenen starben 27 auf einer Intensivstation, der Rest verstarb im Pflegeheim, zu Hause oder in einer "normalen" Abteilung des Krankenhauses. Das sind bewusste Entscheidungen. Wenn man beschließt, Patienten nicht auf die Intensivstation zu schicken, reduziert man den Druck auf die Krankenhäuser.

"Pflegeheime überlegen sehr genau, bevor sie jemanden ins Krankenhaus und auf die dazugehörige Intensivstation schicken", sagt Bart Berden, Vorsitzender der Regionalen Beratung Akutversorgung in Brabant. "Ein Mensch über 85 Jahren mit Corona kann möglicherweise nie wieder unabhängig leben. Die Frage ist: Welchen Wert haben Sie für das Leben eines Menschen geschaffen?" Berden betont, dass Pflegeheime diese Überlegungen sehr sorgfältig behandeln.

Trotzdem wuchs schon Mitte März die Anzahl neuer Coronapatienten so stark, dass der Druck auf die Krankenhäuser in Brabant immer stärker wurde. Ihm zufolge betrifft es die Krankenhäuser um Uden, Tilburg und in geringerem Maße Breda. Dies sind genau die Krankenhäuser, die in den drei Ausbruchsorten der ersten "Karnevalswelle" der Corona liegen.

Konkurrenz mit EU-Ländern um Schutzausrüstung

Berden beklagt auch den Mangel an Schutzausrüstung: Wenn man immer nur das Billigste wähle, mache man sich abhängig von weit entfernten Ländern. "Wenn wir jetzt einen Termin vereinbaren, um irgendwo eine Charge zu kaufen, passiert es einfach - auch wenn die Masken bereits im Flugzeug fertig sind -, dass Frankreich dem Verkäufer sagt: Wir bieten das Doppelte an. Und dann verschwanden diese Mundmasken plötzlich während des Transports."

Mark Martens ist Facharzt für Geriatrie bei den Zuyderland Care Centers in Limburg, einem Träger von Alten- und Pflegeheimen. Vorletzte Woche starben dort acht Bewohner, aber nur einer im Krankenhaus - der Rest, die Gebrechlichsten, blieb im Heim.

"Im Pflegeheim", sagte Martens der Zeitung, "kann die Anzahl der Patienten, die wir mit schwerwiegenden medizinischen Problemen wie Corona ins Krankenhaus schicken würden, an den Fingern einer Hand abgezählt werden. Wir bringen sie nur dann dahin, wenn wir erwarten können, dass die Menschen über ausreichende Kapazitäten zur Genesung verfügen."

Die Fachärztin für Altersheilkunde (Geriatrie) Maggy van den Brand von der Pflegeorganisation Archipel aus Eindhoven, schätzte gegenüber de Volkskrant, dass im Notfall 10 bis 20 Prozent der Patienten ihrer Einrichtung wie Coronapatienten ins Krankenhaus geschickt werden.

Vereinbarungen mit Patienten und Angehörigen

Sowohl Martens wie auch van den Brand betonten, dass solche Entscheidungen immer in Absprache mit dem Patienten oder der Familie getroffen würden. Dies habe sich durch Corona nicht geändert (Stand 22. März). Dies sei ihre übliche Vorgehensweise, die sich auf die Lebensqualität konzentriere.

Wenn ein Patient neu zu uns kommt, treffen wir in aller Ruhe Vereinbarungen mit ihm oder seiner Familie. Wir sind sehr weit darin, dies früh zu diskutieren. Wir fragen, ob wir reanimieren sollen. Und ob wir bei schwerer Lungenentzündung jemanden ins Krankenhaus schicken sollen. Wir können uns hier oft selbst darum kümmern, wie Sauerstoff geben. Aber du solltest nicht erst darüber nachdenken, wenn das Problem bereits da ist. In einem solchen Fall machen viele Patienten und ihre Familien den Kompromiss: Wenn die Dinge sehr schlecht laufen, wird jemand nicht mehr von einem Krankenhausaufenthalt profitieren. Es gilt nicht für jeden Patienten, aber wir kommen regelmäßig zu dem Schluss: Wenn Sie jemandem etwas Gutes tun wollen, sollten Sie ihn nicht um jeden Preis am Leben erhalten wollen.

Maggy van den Brand

Rund 80 Prozent der Patienten im Pflegeheim seien dement, wird die Medizinerin zitiert. "Wir stimmen oft mit ihren Familien überein: Wir tun nichts, um das Leben zu verlängern." Das Krankenhaus sei für diese Patienten sehr stressig, erklärt sie. Sie sind darüber völlig verärgert. Sie bekommen oft Delirium. Dann werden sie verwirrt, ängstlich, halluzinieren. "Und natürlich schicken Sie keinen Demenzkranken, der nur noch in Embryohaltung im Bett liegt, noch auf die Intensivstation."