Wie ist der Skandal um Till Lindemann und Rammstein zu bewerten? Das sagen unsere Leser

Seite 4: Rammstein, die Medien und die Natur des Menschen

In einem ausführlichen Kommentar äußert sich Telepolis-Leser Sentinel zu der Art und Funktion der Berichterstattung über Rammstein und Till Lindemann. Er sieht die Skandalisierung vor allem durch Neugier und den der wertende Vergleich bzw. die Klassifikation getrieben:

"Neugier ist eine immerwährende und den Überlebensvorteil stärkende motivationelle Kraft. Ohne Neugier könnten wir unsere Umgebung nicht erkunden, würden den meisten Dingen nie auf den Grund gehen und letztlich an banalen und ggf. vermeidbaren Umständen und Gefahren zugrunde gehen.

Je emotionaler ein Inhalt, desto größer die Kraft der Neugier, zu erfahren, worum es da genau geht.

Auf diesem Prinzip der emotionsaufgeladenen Neugier basieren die Clickbaits. Selbst hochseriöse Medien und Presse wie Spiegel oder Zeit bauen seit einigen Jahren immer öfter und immer stärker Überschriften ein, die einen emotional-polarisierenden Reiz setzen, die die Neugier maximal wecken und so zum Anklicken motivieren. Nicht selten stellt man fest, dass die Überschrift so zugespitzt formuliert wurde, dass sie den Inhalt des eigentlichen Artikels nur am Rande betrifft, wenn überhaupt.

Ein zweiter Prozess ist immer die Einordnung von Dingen in "gut", "böse", in "muss weg", "kann bleiben". "ist harmlos", "ist gefährlich",

Auch das ist ein ganz fundamentaler Prozess der Komplexitätsreduktion, der die Lebensumstände so sortieren soll, dass der Neokortex nicht zu viel Energie verbrauchen muss, um jeden und alles immer von Grund auf in allen seinen Facetten neu zu beurteilen, sondern nach einmal getaner Analyse auf dem Ähnlichkeitsprinzip basierend, Dinge schnell in Schubladen stecken zu können.

Wenn ich einmal vom Tiger angegriffen wurde, wird das Label "böse", "gefährlich" gleich allen Tigern und vermutlich auch allen sonstigen Tieren mit ähnlicher Erscheinungsform zugewiesen. Das schützt mich dann, weil ich bei einem Löwen nicht erst die Erfahrung machen muss, gebissen zu werden, sondern mich von vorneherein in Acht nehmen kann.

Alles, was dem Überlebensvorteil dient, wird im Gehirn mit einem kleinen Dopaminstoß im Nucleus accumbens belohnt und solche Verhaltensweisen verstärkt. Wir freuen uns gewissermaßen, wann immer uns wieder eine "Klassifikation" gelingt.

Genau auf diesen fundamentalen psychischen Prozessen bauen unsere Medien immer stärker auf – und das trotz all der Aufklärung, all der gefühlten Rationalität und des fast unendlichen Wissens, das wir (zu) haben (glauben).

Also: da berichtet jemand, dass er von einem bekannten Sänger angegriffen/genötigt/belästigt (...) wurde.

Klar, in der Neandertaler-Höhle könnte die archaische Reaktion: "Vorsicht, Kind, Sänger gefährlich, gehe nicht hin" eine lebensrettende Maßnahme sein. Auch heute kann das eine lebensrettende Einstellung sein.

Dumm nur, dass wir Medien haben, die den Verdacht, der ja zunächst mal unbestätigt und unbewiesen ist, gewissermaßen als "quasi-Tatsache" berichten.

Während in der Berichterstattung über den Ukrainekrieg mindestens fünfmal (…) darauf hingewiesen wird "Diese Angaben konnten unabhängig nicht bestätigt werden", wurde über den Fall Rammstein, über den Fall Kachelmann, über den Fall Andreas Türk, über den Fall Kevin Spacey, über den Fall Johnny Depp und unzählige andere Fälle so berichtet, als sei von Tatsachen auszugehen.

So etwas nennt sich Vorverurteilung und sorgt für massive Dopaminstöße bei den Massen, die sich sagen: "Jawoll, das ist ein Tiger, Tiger gefährlich, Tiger muss weg". Das Hirn freut sich über eine weitere Klassifikation und der Nucleus accumbems beklatscht das Ganze mit einer kräftigen Prise Dopamin.

Dumm nur: die Anklage gegen Kevin Spacey fällt, wie man gestern lesen konnte, gerade in sich zusammen, da Spacey bei der besagten Party 2001 war, der angebliche Vorfall sich aber 2004/5 ereignet haben soll.

Johnny Depp wurde freigesprochen in den USA, nach maximaler Durchleuchtung des Falls.

Kachelmann wurde von der Bild bereits als Vergewaltigungsmonster in Grund und Boden geschrieben, bis er anfing, sich zu wehren und am Ende freigesprochen werden musste, da die Geschichte aller Wahrscheinlichkeit frei erfunden worden war.

Genau wie die Geschichte von der angeblichen Vergewaltigung durch Andreas Türk. Dessen Leben und Karriere wurden zwar ruiniert, aber Hauptsache, der Boulevard hatte wochen- und monatelang was zu schreiben.

Ob Rammstein nun schuldig ist oder nicht weiß kein Mensch außer ihnen selbst und den eventuellen Opfern (...).

Der Boulevard hingegen lebt von der Sensation, mit der die Neugier des Menschen weckt und er verschafft ihm ungeahnte Lustbefriedigung durch implizit bewertende und vorverurteilende Berichterstattung.

Eigentlich sollten all die genannten Opfer von dieser Art der Berichterstattung, die sich nicht um Neutralität bemüht, maximale Schadensersatzansprüche einfordern können - gerade bei Prominenten kann das schon mal schnell in zweistellige Millionenhöhen gehen, wenn man die potenziellen Verdienstausfälle eines Künstlers oder Prominenten berücksichtigt.

Wo bleiben eigentlich die ganzen Abmahnanwälte, die jede Furz-Webseite verklagen, weil die eine falsche Schriftart verwenden. Hier gäbe es doch einen gigantischen Reibach zu machen, indem man die großen Medien- und Pressehäuser verklagt wegen unsachgemäßer und tendenziöser Berichterstattung."

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