Wie lassen sich Mutationen von Sars-CoV-2 entdecken?

Elektronenmikroskopische Aufnahme von Sars-CoV-2 (orange). Bild: National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID)/CC BY 2.0

Die Meldungen über Sars-CoV-2-Mutationen kamen von den britischen Inseln, bevor sie in Deutschland entdeckt wurden und das verwundert Fachleute nicht wirklich. Interview mit dem Molekularbiologen Peter Nürnberg

Das staatliche Gesundheitssystem in Großbritannien mag ja hinsichtlich der Versorgung der Bevölkerung durchaus seine Schwächen haben. Die zentralistische Struktur und die Verfügbarkeit von angeschlossenen Laboren, die umfangreiche Erfahrungen mit der sogenannten Genomsequenzierung besitzen, scheint bei der Suche nach Mutationen des Coronavirus erfolgreicher zu sein als bei der aktuellen Bekämpfung der Pandemie.

In Deutschland tat sich die Genomsequenzierung bislang nicht nur im Falle von Corona sichtlich schwer. Wird im UK etwa jeder 15. positive Corona-Test einer Genomsequenzierung unterzogen, so war das in Deutschland bislang nur knapp jeder 900. Wie weit Deutschland bei der molekularen Überwachung des Virus derzeit zurückliegt, zeigt sich daran, dass Anfang Januar 2021 im UK bereits mehrere Tausend Fälle der neuen Mutation dokumentiert waren, in Deutschland jedoch erst vier.

Telepolis nahm die Diskussion um die deutsche Verspätung bei der Genomsequenzierung des Coronavirus zum Anlass Prof. Dr. Peter Nürnberg, dem Gründungsdirektor des Cologne Center for Genomics, zu diesem Themenfeld zu interviewen.

Was versteht man unter einer Genom-Sequenzierung?

Peter Nürnberg: Wie der Name schon sagt, wird bei der Genomsequenzierung die Sequenz des Genoms, also die gesamte Erbinformation eines Organismus, entschlüsselt. Sie ist eine ganz wesentliche Methode der modernen Forschung im Bereich der Lebenswissenschaften und hat diese gleichsam revolutioniert.

In der Medizin wurde auf ihrer Grundlage das neue Gebiet der genomischen Medizin begründet mit bahnbrechenden Erfolgen in der personalisierten Krebstherapie und der Diagnostik von seltenen genetischen Erkrankungen. Ihre Rolle für die Erforschung und Behandlung von Infektionskrankheiten ist aber nicht minder bedeutsam.

Welche Informationen kann eine Genomsequenzierung im Zusammenhang mit Corona liefern?

Peter Nürnberg: Das Genom von Coronaviren, wie das die Infektionskrankheit Covid-19 hervorrufende Sars-CoV-2, verändert sich ständig und sogar ziemlich schnell. Will man diese Veränderungen erfassen, muss man das Genom lesen, also sequenzieren. Dabei stößt man mitunter auf recht viele Mutationen im Vergleich zu einer zu Beginn des Auftretens dieses Virus einmal festgelegten Referenzsequenz. Je länger das Virus in Umlauf ist, umso stärker wird seine Sequenz von der ursprünglichen abweichen.

Da die Veränderungen jedoch schrittweise erfolgen, lässt sich Geschichte der Veränderungen sehr gut rekonstruieren. Da inzwischen sehr viele verschiedene Virusvarianten existieren, kann man ein konkretes Infektionsgeschehen sehr genau nachzeichnen und den oder die Urheber eines lokalen Ausbruchs anhand des spezifischen Mutationsmusters ausfindig machen. Besonders wichtig wird die Genomsequenzierung, wenn es um die Entdeckung von Mutationen geht, die die Eigenschaften des Virus verändern, wie es unlängst für die britische Variante B.1.1.7 nachgewiesen wurde.

Diese mehrere Mutationen umfassende Virusvariante kann offenbar leichter von Mensch zu Mensch übertragen werden und ist womöglich nicht nur ansteckender, sondern eventuell sogar auch mit einer höheren Sterblichkeit verbunden. Letzteres ist aber noch nicht zuverlässig nachgewiesen worden.

Kann man mit Hilfe eines PCR-Tests feststellen, ob es sich um eine bekannte Form des Corona-Virus oder einen Mutanten handelt?

Peter Nürnberg: Ja, es gibt inzwischen spezifische PCR-Tests, mit denen man die bekannten Mutanten feststellen kann, aber eben nur die bekannten und keine neu auftretenden. Will man unbekannte Mutationen finden, hilft nur die Sequenzierung des Virengenoms.

Peter Nürnberg

Warum wird in UK die Genomsequenzierung schon standardmäßig durchgeführt und in Deutschland nicht?

Peter Nürnberg: Im UK ist die Gesundheitsversorgung im National Health Service (NHS) zentral vom Staat organisiert, während Deutschland auf ein föderales und mehr privatwirtschaftlich agierendes System setzt. Dabei besteht das Risiko, dass jeweils eigene Systematiken entwickelt werden, die sogar zueinander soweit inkompatibel sein könnten, dass sie einzeln abgeglichen werden müssen.

Auf den britischen Inseln hat man nach sechsjähriger Erprobung im Oktober 2018 die Sequenzierung des gesamten Humangenoms in der genetischen Routinediagnostik eingeführt. Deutschland ist hierbei sehr zurückhaltend, was wohl auch der unrühmlichen deutschen Geschichte im letzten Jahrhundert geschuldet ist.

Die Bundesregierung hatte zuletzt bemerkt, es gäbe in Deutschland keine ausreichende Laborkapazitäten?

Peter Nürnberg: Das kann man so nicht sagen. Es kommt immer darauf an, welche Art Laborkapazität gemeint ist und ob man sich bei der Aussage auf rein medizinisch-diagnostische Routine-Labore beschränkt. Das Hauptproblem bei der Unterlassung von ausreichend Sequenzierungen der positiven Coronavirus-Abstriche in Deutschland bestand bislang darin, dass hierfür nicht genügend Mittel bereitstanden, weder Forschungsmittel noch Mittel aus der Gesundheitsversorgung. Hier hat der Bundesminister für Gesundheit, Jens Spahn, mit seiner Verordnung zur molekulargenetischen Surveillance des Coronavirus SARS-CoV-2 jüngst Abhilfe geschaffen.

Unter Regie des RKI werden nun bis zum Sommer kontinuierlich bis zu 10% aller positiv getesteten Abstriche auch sequenziert. Dass die öffentliche Hand ihr Interesse jetzt mit einer Bezahlung der untersuchten Proben verknüpft hat, ist ein großer Fortschritt. Ich bin zuversichtlich, dass wir bald ähnlich gute Daten über die Verbreitung und Evolution des Virus in der deutschen Bevölkerung haben werden wie im vereinigten Königreich.

Gibt es eine europäische Abstimmung bei der Genomsequenzierung?

Peter Nürnberg: Nicht wirklich. Jedes Land ist angehalten, die Überwachung der Virusvarianten selbst zu organisieren, aber natürlich werden die Informationen dann mit den Wissenschaftlern der anderen Länder weltweit geteilt. Diese Informationen sind einfach zu wichtig für die Gesundheit der gesamten Weltbevölkerung.

Eine vorbildliche Arbeit im Hinblick auf die Surveillance von Sars-CoV-2 leisten in Europa zur Zeit Großbritannien und Dänemark.

China will mit einer Investition von etwa sieben Milliarden Euro die weltweite Führung bei der Genom Sequenzierung übernehmen. Welche Chancen bleiben da für Europa?

Peter Nürnberg: Bei dieser chinesischen Investitionsabsicht geht es in erster Linie um die Sequenzierung des Humangenoms und den Ausbau des biomedizinisch-industriellen Komplexes. In Europa ist das Vereinigte Königreich führend. Hier wurde früh die ökonomische Bedeutung der Genomforschung erkannt und aufbauend auf ihren großartigen Erfolgen in der Forschung haben sie ein entsprechendes Programm für die Wirtschaft entwickelt.

Ohne UK muss sich die EU sehr anstrengen, verlorenen Boden wiedergutzumachen. Insbesondere die deutsche Politik muss hier umdenken, damit Deutschland vom Bremser zum Motor der Entwicklung wird. China will jetzt offensichtlich nicht nur bei der Elektronik und der Elektromobilität alle anderen überholen.

Wieviele positive Corona-Proben kann man in Deutschland sequenzieren?

Peter Nürnberg: Die aktuelle Verordnung des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), nach der die Sequenzierung einer Virusprobe mit 220 Euro honoriert wird, zielt darauf ab, dass 5 Prozent der positiven Coronaproben sequenziert werden, solange die Neuinfektionszahlen über 70.000 pro Woche liegen. Fallen sie darunter, sollen 10 Prozent der positiven Proben sequenziert werden.

Bei Einbeziehung von universitären und außeruniversitären Forschungslaboren gäbe es genügend Sequenzierkapazitäten in Deutschland, um alle PCR-positiven Proben auch zu sequenzieren, aber mit der Limitierung auf 5 bzw. 10 Prozent erhält man bereits einen sehr guten Überblick über die Verbreitung der verschiedenen Virenstämme und deren Entwicklung im Laufe der Zeit. Zudem wurde beim Finanzierungskonzept des BMG auch die Möglichkeit eröffnet, in Hotspots mehr Proben zu sequenzieren, um möglichen neuen Mutanten schneller auf die Spur zu kommen.

Wie sollten die Proben an die Labore kommen? Wer sollte das organisieren?

Peter Nürnberg: In Deutschland setzt man in der Gesundheitsversorgung ja stark auf die Selbstorganisation der Beteiligten. Die Politik versucht nur die Rahmenbedingungen zu setzen und so gegebenenfalls steuernd einzugreifen. So ist auch die Coronavirus-Surveillanceverordnung des Gesundheitsministers zu verstehen.

Die meisten PCR-Tests auf SARS-CoV-2 werden in Deutschland von Privatlabors durchgeführt. Da die Test-Labore jetzt auch für die Sequenzierung der Virusproben belohnt werden, werden sie sich der Sequenzierung auch verstärkt zuwenden, und die Labore, die zwar PCR-Tests machen, aber nicht so schnell eine Virus-Sequenzierpipeline aufsetzen können, haben die Möglichkeit, sich einen Partner zu suchen, der ihre Proben sequenziert.

Dann werden sowohl das sequenzierende als auch das einsendende Labor für die Erstellung der Sequenz angemessen entlohnt. Voraussetzung ist, dass die Sequenzen sehr schnell ans RKI gemeldet werden. Diese zentrale Erfassung der Sequenzen samt Metadaten nach einem einheitlichen Standard ist ganz entscheidend für einen Erfolg dieser Maßnahme.

Nach welchen Kriterien sollten die Proben ausgewählt und wie sollte das dokumentiert werden?

Peter Nürnberg: Es geht darum, eine möglichst repräsentative Stichprobe von allen akuten Coronavirusinfektionen im Land über einen Zeitraum von zunächst 6 Monaten zu erfassen. Nur so lassen sich zuverlässige Aussagen über die Verbreitung bestimmter Virusvarianten in der deutschen Bevölkerung machen. Darüber hinaus kann die gezielte Untersuchung von auffälligen Ausbruchsereignissen angeordnet werden.

Auch die besondere Überwachung von Reiserückkehrern aus Ländern wie UK, Portugal und Südafrika, mit einem hohen Anteil der neuen Virusvarianten in ihrer Bevölkerung, wird ein Schwerpunkt der Untersuchungen sein. Auf ihrer Homepage beschreiben die RKI-Mitarbeiter sehr genau, welche Informationen sie in welcher Form erwarten.

Wie lange dauert die Durchführung einer Sequenzierung des Corona-Genoms? Kann man mehrere Sequenzierungen parallel durchführen?

Peter Nürnberg: Das RKI gibt eine Frist von 10 Tagen vor. Die eigentliche Sequenzierung dauert je nach verwendeter Technologie ein paar Stunden bis mehrere Tage. Es kommen unterschiedliche next generation sequencing (NGS)-Verfahren zur Anwendung, beispielsweise die Nanopore-Sequenzierung von Oxford Nanopore Technologies oder das sequencing by synthesis von Illumina. Allen NGS-Verfahren gemeinsam ist der hohe Grad der Parallelisierung. Üblicherweise werden 96 Proben gleichzeitig sequenziert. Das lässt sich aber auch noch erheblich steigern.

Wie kann Deutschland ein Covid-19 Genomic Surveillance System aufbauen und die Verbreitung von Mutationen nicht nur verfolgen, sondern auch bei der Bekämpfung der Pandemie nutzen?

Peter Nürnberg: Die ersten Schritte sind getan: Es wird ab sofort mehr sequenziert und die Daten werden zentral am RKI erfasst. Im Übrigen gibt es ja auch schon gut etablierte lokale Überwachungsprojekte in Deutschland wie beispielsweise am Heinrich-Pette-Institut in Hamburg, dem Leibnitz-Institut für Experimentelle Virologie.

Unter der Leitung von Professor Adam Grundhoff wurde hier bereits in Zusammenarbeit mit dem UKE erfolgreich ein genomisches Überwachungs- und Frühwarnsystem für SARS-CoV-2-Varianten für die Freie und Hansestadt Hamburg etabliert. Hier hat man nicht erst auf einen Startschuss von einer Bundesbehörde gewartet, sondern mit Unterstützung des Senats der Stadt frühzeitig regional gehandelt.

Es kommt jetzt darauf an, diese vorausschauenden lokalen Aktivitäten in das bundesweite Programm mit einzubinden und die Erfahrungen der Kollegen zu nutzen. Nur so können die Erkenntnisse über die Verbreitung der neuen Varianten auch schnell zur gezielten Bekämpfung der Pandemie genutzt werden. Treten die neuen Varianten irgendwo auf, müssen verschärfte Quarantänemaßnahmen und eine strikte Nachverfolgung der Kontakte umgesetzt werden.

Welche Rolle könnte die Deutsche COVID-19 OMICS Initiative (DeCOI) bei der Kommunikation der Anforderungen an die Sequenzierung des Corona-Genoms und der Auswertung einschließlich der Erkennung neuer Mutanten spielen?

Peter Nürnberg: Zahlreiche Genomforscher sind derzeit dabei, ihre Expertise und Sequenzier-Infrastruktur so zu bündeln, dass sie einen umfassenden wissenschaftlichen Beitrag zur Bewältigung der Covid-19 Pandemie erbringen können. Diese Aktivitäten werden nun offiziell in der DeCOI zusammengeführt, an der sich auch German Biobank Node (GBN) beteiligen.

In diesem Netzwerk gibt es eine beachtliche Kompetenz auch im Hinblick auf die Analyse der Evolution von Virusgenomen und ihre Auswirkung auf die Pathogenität. Das RKI selbst ist mit seinen wissenschaftlichen Aktivitäten auch in diesem Netzwerk vertreten und will die Daten aus dem bundesweiten Surveillance-Programm, die es von Amts wegen zentral sammelt, unbedingt allen Kollegen zugänglich machen, die etwas zur Auswertung beitragen können.

Als Ausblick auf die nun begonnenen Impfungen eine letzte Frage: Welche Möglichkeiten bietet die Genom-Sequenzierung bei der Verfolgung der Impfkampagnen?

Peter Nürnberg: Die ständige Veränderung des Virus wird dazu führen, dass die derzeitig angebotenen Impfstoffe irgendwann nicht mehr die erhoffte Immunität bewirken. Es muss genau verfolgt werden, was für eine Virusvariante eventuell trotz Impfung zu einer Erkrankung führt.

Es wird uns sicher, ähnlich wie bei der Influenza, noch viele Jahre beschäftigen, wie wir die Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 wirksam halten. Vermutlich werden wir dann alljährlich nicht nur zur vorbeugenden Grippeschutzimpfung, sondern auch COVID-19-Schutzimpfung aufgerufen. Hier sind im nationalen Maßstab das RKI und im internationalen die WHO gefragt.

Telepolis bedankt sich für die Beantwortung der zahlreichen Fragen.

Prof. Dr. Peter Nürnberg: Von 2000 bis 2004 Leiter des Gene Mapping Center am Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin. Seit 2004 Professor für Genomics (C4), Universität Köln. Seit 2005 Gründungs-Direktor des Cologne Center for Genomics. Seit 2008 CSO/CEO der ATLAS Biolabs GmbH. Von 2004 bis 2020 Vorstandsvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Gendiagnostik e.V.