Wie man mit Corona gegen Seenotretter vorgeht

Mit der Ocean Viking wurde das letzte private Rettungsschiff in Italien festgesetzt - SOS Mediterranée und Ärzte ohne Grenzen haben sich in Folge der Pandemie getrennt

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Vereint gegen Corona, vereint gegen Seenotrettung. - In Porto Empedocle, dem Hafen der sizilianischen Stadt Agrigent, liegt ein halbes Dutzend Schiffe. Zwei gehören deutschen Seenotrettungsorganisationen: Die Sea-Watch 3 vom gleichnamigen Verein und die Ocean Viking von SOS Méditerranée.

Die Sea-Watch 3 muss seit Anfang Juli dort certäut bleiben, Begründung: technische Mängel. Die Ocean Viking wurde jetzt, am 22. Juli, festgesetzt. Der Crew wird vorgeworfen, sie habe mehr Personen an Bord gehabt, als sie laut Frachtpapieren haben dürfe. Das sind 42 an der Zahl.

Das muss man mehrmals hören, um den Zynismus zu begreifen. Die Ocean Viking ist kein Fahrzeug, das Passagiere befördert, sondern ein Rettungsschiff, das Menschen vor dem Untergehen bewahren will. Sollen die Lebensretter Strichlisten führen und mit dem Helfen aufhören, wenn die Zahl 42 erreicht ist? Genau genommen fordern die italienischen Behörden Hilfe zu unterlassen - das aber wäre eine Straftat.

Im Juni hatte das etwa 70 Meter lange Boot 181 Menschen aus Seenot an Bord genommen und Anfang Juli in Agrigent an Land bringen können. Dafür wurde es nun durch italienische Behörden festgesetzt und darf den Hafen nicht verlassen. So wie auch die Sea-Watch 3.

So viel Willkür war lange nicht. Sie wurde durch Corona und die dadurch geschaffenen vielfältigen politisch-administrativen Maßnahmen der Exekutive begünstigt. Das Viruskrisenmanagement wird bereitwillig gegen die lästigen privaten Helfer auf dem Mittelmeer eingesetzt.

Eine kurze Zeit der Aufbruchsstimmung

Die Auseinandersetzung zwischen den Nicht-Regierungsorganisationen (NGO) und den verschiedenen EU-Staaten um die Migranten, die unaufhörlich von Nordafrika aus übers Mittelmeer nach Europa fliehen, hält zwar seit Jahren mit unveränderter Härte an, vor einem Jahr veränderte sich aber die öffentliche Stimmung zugunsten der Retter. Das hing unter anderem mit der Tat der Sea-Watch 3-Kapitänin zusammen, die nach zwei Wochen des Wartens den Notstand erklärte und ohne Erlaubnis die Schiffbrüchigen in Lampedusa an Land brachte.

Die Kapitänin wurde später freigesprochen, der Verein bekam sein zunächst konfisziertes Schiff zurück. Kurze Zeit später war auch SOS Méditerranée, unterstützt von Ärzte ohne Grenzen, nach mehreren Monaten mit einem neuen Schiff, der Ocean Viking, zurück auf dem Wasser. Und auf Initiative der evangelischen Kirche wurde ein Schiff gekauft, das zur Zeit zum Rettungsschiff umgebaut wird. Es war eine kurze Zeit der Aufbruchsstimmung.

Dann kam das Coronavirus und die Ausrufung der Pandemie mit geschlossenen Häusern und Grenzen. Mit dem Ausnahmezustand zu Lande galt der Ausnahmezustand zu Wasser nun erst Recht nicht mehr. Die potentielle Gesundheitsgefahr durch eine Infektion zählte mehr als die akute Lebensgefahr durch Ertrinken. Gefährdete erster und zweiter Klasse. Allerdings wollten nicht alle Seenotretter dem globalen Lockdown folgen und blieben im Mittelmeer.

"Unsichere Häfen"

Italien und Malta griffen zu einer unglaublichen Maßnahme: Sie erklärten ihre Häfen zu "unsicheren Häfen". Eine Vermischung zwei verschiedener Ebenen. Ein neuartiges Virus soll zugleich die Rettung von Schiffbrüchigen gefährden, so die Logik. Tatsächlich machte nicht Corona die Häfen "unsicher", sondern der Mutwille der politischen Administratoren. Die Covid19-Pandemie als "Rechtfertigung" für Hafenschließungen wird das in einer Studie der Heinrich-Böll-Stiftung genannt.

Weil das unter deutscher Flagge fahrende Rettungsschiff Alan Kurdi im Mittelmeer blieb, wandte sich das italienische Innenministerium an die "Kollegen" in Deutschland, wo man bereitwillig half. Das Seehofer-Ministerium wandte sich Anfang April 2020 schriftlich an fünf deutsche NGOs und "appellierte" an sie, "derzeit keine Fahrten aufzunehmen und bereits in See gegangene Schiffe zurückzurufen".

Das wäre gerade so, als riefe man die Feuerwehr zurück, weil es in einem brennenden Haus mit dem Corona-Virus infizierte Personen gibt.

Parallel war auch Seehofers CSU-Parteifreund Andreas Scheuer nicht untätig. Er ließ sein Verkehrsministerium die sogenannte Schiffssicherheitsverordnung verschärfen, die vor allem kleine Rettungsschiffe berührt. Die neue Rechtslage verlangt Veränderungen hinsichtlich Bauweise, Ausrüstung, Besatzung oder der Qualifikation des Kapitäns, der mit Kapitänen auf großen Schiffen gleichgestellt wird.

Um die Boote diesen Bedingungen zu unterwerfen, werden sie taktischerweise formal als "Rettungsschiffe" eingestuft und damit eigentlich anerkannt. Doch für die Pflicht zur Rettung Schiffbrüchiger braucht es normalerweise keine Bedingungen an das Wassergefährt, sondern nur die Anwesenheit am Unglücksort. Auch ein einfaches Fischerboot kann und muss retten.

In Italien wurde die Haltung seitens der deutschen Regierung als das verstanden, was sie sein soll: freie Hand zu haben für das Vorgehen gegen "deutsche" Seenotretter.

Unter Druck

Im März stellte sich den NGOs eine schwerwiegende Frage: Fortsetzung der Seenotrettung oder Aussetzung? Die weltweite Corona-Pandemie setzte die NGOs unter gewaltigen Druck und sorgte schließlich zwischen SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen, die seit vier Jahren gemeinsam auf Rettungsschiffen arbeiten, für unüberwindbare Differenzen. SOS Méditerranée war für das Aussetzen, weil die Rettungen noch unkalkulierbarer wurden.

Was passiert, wenn an Bord Covid ausbricht und nicht einmal medizinische Evakuierungen garantiert sind? Von den Außenministerien in Deutschland, Frankreich und Italien seien Signale gekommen, die Retter und Geretteten auf keinen Fall zu unterstützen. Diese Verantwortung wollten die Verantwortlichen der NGO nicht tragen.

Auch die Erfahrung mit der Aquarius mag für SOS Mediterranée eine Rolle gespielt haben. 2018 wurde dem Schiff mehrmals von Staaten die Flagge entzogen, so dass es der Reeder schließlich zurückzog. Die neue Reederei aus Norwegen ließ durchblicken, dass sie froh wäre, wenn die Ocean Viking, ihr Schiff, während der Corona-Krise im Heimathafen Marseille bliebe. Vielleicht hatte man bei SOS Méditerranée Sorge, das nächste Schiff und den nächsten Reeder zu verlieren.

Ärzte ohne Grenzen sahen die Situation dagegen komplett anders. Sie sind an vielen Orten der Welt im Einsatz und haben es immer wieder auch mit gefährlichen Viren zu tun. Auch im italienischen Bergamo, dem Zentrum des Virusgeschehens, halfen sie.

Unterschiede zwischen beiden NGOs waren nicht zu überbrücken

Die Flüchtlinge begeben sich weiterhin aufs Meer und ertrinken, man muss sie retten, egal, welche Umstände herrschten, so die Position von MsF (Médecins sans Frontières). Für geschlossen erklärte Häfen habe es auch schon vor Corona gegeben, man müsse die EU-Staaten zur Aufnahme und zur Schaffung einer Lösung zwingen, jetzt wie bisher. Sie wollten die Missionen ungeachtet von Corona fortsetzen.

Diese Unterschiede zwischen beiden NGOs waren nicht zu überbrücken, MsF zog sich zurück und ist derzeit nicht in der Seenotrettung engagiert. Seit 2016 waren beide Initiativen gemeinsam auf zwei Schiffen im Einsatz. Über 30 000 Menschen haben sie zusammen gerettet.

SOS Méditerranée musste ein neues medizinisches Team zusammenstellen und bedauert den Rückzug des einstigen Partners auch deshalb, weil die international bekannten und anerkannten Ärzte ohne Grenzen der Seenotrettung eine besondere "Legitimität" gegeben haben.

Seit Juni war die Ocean Viking wieder auf Suche vor der libyschen Küste und hat viermal Schiffbrüchige an Bord genommen. Dabei zeigte sich, dass auch die sonstigen allgemeinen Hygiene- und Coronaregeln mit Rettungseinsätzen nicht zusammenpassen. Abstand halten und gleichzeitig jemanden aus dem Wasser fischen, ist nicht kompatibel.

Aber auch Maßnahmen wie das Tragen von Schutzanzügen und Masken, oder physisches Distanzhalten erwiesen sich an Bord als problematisch. Infektionsschutzmaßnahmen, die zu einer Entpersönlichung führen und zwischenmenschliche Nähe verhinderten. Das sorgte, so sagen es Verantwortliche von SOS Méditerranée, für Misstrauen der Geretteten gegenüber der Crew. Gerade Nähe, Berührungen, Umarmungen, Anteilnahme brauchen die Traumatisierten besonders.

Als die Ocean Viking wieder tagelang vor der italienischen Küste kreuzen musste, weil die Häfen immer noch als "unsicher" deklariert sind, stieg der Stress unter den Geretteten. An Bord kam es zu Situationen, wie in all den Jahren bisher nicht. Zwei Menschen sprangen in ihrer Verzweiflung ins Meer und mussten erneut gerettet werden. Mehrere Gerettete äußerten Selbstmordgedanken und drohten sich und andere zu verletzten. Innerhalb von 24 Stunden habe es sechs Suizidversuche gegeben. Daraufhin rief der Kapitän den Notstand aus.

Darufhin erst jetzt reagierten die italienischen Behörden. Ein Psychologe der Gesundheitsbehörde überprüfte die Lage an Bord und bestätigte den Notstand. Ein Team von Medizinern testete die Geretteten auf Corona, alle waren negativ. Anschließend wurden sie zunächst auf ein Quarantäneschiff überstellt.

Die Crew der Ocean Viking wurde nicht getestet. Das Schiff durfte weder in den Hafen von Porto Empedocle einfahren noch die italienischen Hoheitsgewässer verlassen. Es musste zwei Quarantänewochen lang in Sichtweite vor der Küste hin- und herfahren.

Am 22. Juli wurde das Schiff in den Hafen beordert. Zur "Port State Control", einer technische Überprüfung, wie es hieß. Die werden regelmäßig vorgenommen, bei der Ocean Viking im vergangenen Jahr bereits vier Mal, eigentlich eine Routinemaßnahme, die nur wenige Stunden dauert. Doch diesmal war alles anders: Das Schiff wurde festgesetzt und hat keine Ausfahrtserlaubnis. Damit ist zur Zeit kein einziges privates Seenotrettungsschiff mehr auf dem Mittelmeer im Einsatz.

Dennoch machen sich weiterhin täglich Migranten in seeuntüchtigen Booten auf den Weg Richtung Norden. Das weiß man unter anderem durch die Aufklärungsflüge eines Kleinflugzeuges der Organisation Sea-Watch.