Wie realistisch ist eine allgemeine Corona-Impfpflicht überhaupt noch?
Seite 3: Jetzt oder nie
Nimmt man alles zusammen, erscheint es somit fraglich, ob Deutschland noch eine allgemeine Corona-Impfpflicht bekommen wird. Vielleicht verläuft das Vorhaben schlicht im Sande, wenn die Pandemie im Frühling weniger ein öffentliches Thema sein wird.
Das setzt allerdings voraus, dass Omikron – oder mögliche neue Mutationen – nicht gefährlicher sein werden, als wir zurzeit denken. Gesundheitsminister Karl Lauterbach warnte, dass die Menschen im Herbst 2022 ohne Impfungen unzureichend geschützt seien. Doch welche Virusvarianten es dann geben mag, das kann er freilich auch nicht wissen.
Ich gehe davon aus, dass die allgemeine Impfpflicht entweder bis April kommen wird – oder gar nicht. Das gilt freilich nur unter der Annahme, dass die Pandemie keine unerwartete und dramatische Wendung nehmen wird.
Wenn die Anzahl der in den Krankenhäusern behandelten Covid-19-Patienten weiter abnimmt, könnte die Dringlichkeit bald vom Tisch sein. Dann könnte das Coronavirus schließlich so ungefährlich (und gefährlich) werden wie die saisonale Grippe.
Der Impfstoffhersteller Moderna arbeitet zurzeit tatsächlich an einem Kombi-Impfstoff gegen Corona und Influenza. Wer sich impfen lassen will, hatte dazu bisher zahlreiche Gelegenheiten, insbesondere in den Risikogruppen. Vielleicht wird bald jährliches Angebot für eine Kombi-Impfung so normal wie heute die Grippe-Impfung.
Das allgemeine Problem wird aber bleiben: Wie weit darf man die individuelle Freiheit einschränken, um die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen? Es gibt zwar kein "Supergrundrecht" Sicherheit, wohl aber eine staatliche Verpflichtung zum Lebens- und Gesundheitsschutz.
Deutschland hat im internationalen Vergleich ein recht gutes Gesundheitssystem – noch. In der Coronapandemie hat man aber gesehen, wie wichtig die "Ressource" Mensch ist. Denn so ein Intensivbett können jedenfalls bis auf Weiteres nicht die Computer allein betreuen, sondern erfordert spezielle Fachkräfte.
In Zukunft mehr Arbeitsdruck
Der demografische Wandel lässt vorausahnen, dass der Druck nicht nur, aber auch im Gesundheitswesen zunehmen wird: Fachkräfte werden sich immer schwieriger finden – und halten lassen. Wenn die Arbeitsbedingungen zu schlecht sind, wechseln sie eben den Arbeitgeber und/oder gleich das Arbeitsgebiet.
Daher gehe ich davon aus, dass der individuelle Druck, sich "gesundheitskonform" zu verhalten, zunehmen wird. Juli Zeh hat in ihrem dystopischen Roman Corpus Delicti ein Szenario geschildert, in dem es Strafen gibt, wenn die Bürgerinnen und Bürger zu wenig Sport treiben oder etwa ihre Urinproben nicht ordnungsgemäß einschicken; Rauchen gilt darin fast schon als Terrorismus.
So weit werden die Einschränkungen in einem demokratischen Rechtsstaat wohl nicht gehen. Der Roman führt uns aber eine mögliche Richtung vor Augen. Ein Lösungsweg könnte sein, individuelle Freiheit stärker mit individueller Verantwortung zu verknüpfen.
Das heißt, dass sich Menschen nach wie vor ohne Strafen für oder gegen Impfungen entscheiden könnten. Falls sie sich aber dagegen entscheiden und es dann später zu einem großen Druck im Gesundheitssystem kommt, könnte ihre Entscheidung folgen haben.
In einem leichteren Szenario könnte das bedeuten, schlicht an den Kosten der Behandlung beteiligt zu werden – wenn man sich das denn leisten kann. Bei einer schwereren Variante könnte beispielsweise der Impfstatus auch bei einer Triage-Entscheidung mitberücksichtigt werden.
Das dürfte bei Impfgegnern Empörung auslösen. Bei einer Triagesituation wird es aber immer Beteiligte geben müssen, die das Nachsehen haben. Die verfügbaren Mittel sind eben nicht unbegrenzt. Und nicht nur die Entscheidung über Leben und Tod, sondern auch schon der immense Arbeitsdruck für das Personal in den Gesundheitsberufen hat es in sich.
Oder mit anderen Worten: Unser Gesundheitssystem ist in dem Sinne solidarisch, als es allen Menschen hilft, die in Not sind. Solidarität ist aber keine Einbahnstraße. Anderen Menschen eine Härte aufzubürden, die leicht vermieden hätte werden können, ist auch nicht gerade solidarisch.