Wie steht es wirklich um das deutsche Jobwunder?

Erwerbstätigkeit, Arbeit, auskömmliche Beschäftigung - alles einerlei

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Unsere Medien schwelgen bei ihrer Arbeitsmarktberichterstattung gerne in Superlativen. Hier einige Schlagzeilen aus den letzten Monaten: "Rekordbeschäftigung - Deutsches Jobmärchen geht weiter" (Welt.de), "Deutscher Arbeitsmarkt - So viele freie Stellen wie noch nie" (Tagesschau), "Konjunktur - so wenig Arbeitslose wie seit 1991 nicht mehr" (Sueddeutsche.de).

Teil 1: Fakten oder Fake News? Wie es wirklich um das deutsche Jobwunder steht.

Oberflächlich betrachtet, handelt es sich bei all diesen Schlagzeilen um Fakten. Bei näherem Hinsehen erkennt man leicht, dass beispielsweise die Aussage der Süddeutschen mit der Realität in etwa so viel gemein hat wie weiland die Jubelmeldungen über 120 Prozent Planerfüllung in der DDR-Presse, angesichts der zahllosen Manipulationen der Arbeitslosenstatistik, die seit 1991 sukzessive eingeführt wurden.

Als das Statistische Bundesamt vermeldete, dass die durchschnittliche Zahl der Erwerbstätigen im Jahr 2016 bei 43,4 Millionen lag, ging wieder einmal ein Jubelsturm durch den Blätterwald. Bild.de titelte "Neuer Job-Rekord in Deutschland" und behauptete frech: "43,4 Millionen Menschen waren in Lohn und Brot, so viele wie seit der Wiedervereinigung nicht." Das Handelsblatt schrieb: "Um Lohn und Brot brauchten sich die meisten Deutschen im vergangenen Jahr keine Sorgen zu machen" - und bezog dies auf die Erwerbstätigen.

Es hat Tradition, dass deutsche Medien die Begriffe Erwerbstätigkeit, Beschäftigung und Arbeit munter vermischen und, wenn es der gewünschten Aussage dienlich erscheint, synonym verwenden. So muss man erst einmal darauf kommen, dass es unter den Erwerbstätigen auch immer mehr ältere Menschen gibt, die einen Nebenjob ausüben, weil ihre Rente nicht zum Leben reicht. Mit steigender Altersarmut aufgrund der Rentenkürzungen dürfte die Erwerbstätigenquote sicher noch ungeahnte Höhen erklimmen.

Quellen: Bundesagentur für Arbeit; Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen (IAQ); Eigene Darstellung.

Zahlenzauber und Ameisenschrift - wie man die hohe Arbeitslosigkeit Älterer beseitigt

Die bewusste oder gedankenlose Vermischung von Begriffen und Bezugsgrößen ermöglicht es, die Zustände auf dem deutschen Arbeitsmarkt als geradezu paradiesisch darzustellen. Ein Paradebeispiel dafür lieferte kürzlich Spiegel Online ab. Um seine Behauptung zu belegen, auch Ältere säßen heute "fest im Job", scheut Wirtschaftsredakteur Florian Diekmann keine Mühen. Neben seinem spielerischen Umgang mit Begriffen und Bezugsgrößen beeindruckt die kreative Auslegung amtlicher Statistiken.

Die Grafik, die belegen soll, dass "Arbeiten" für Ältere "zum Normalfall" wird, zeigt angeblich die Entwicklung der "Beschäftigungsquote" (laut Text und Überschrift der Grafik), in Wahrheit aber die Erwerbstätigenquote, wie in blasser Ameisenschrift darunter zu lesen ist. Klickt man die 55- bis 59-Jährigen an, tritt Erstaunliches zutage: Mehr als 80 % von ihnen gehen einer "Beschäftigung" nach - in Wahrheit einer Erwerbtätigkeit. Betrachtet man hingegen tatsächlich die Beschäftigungsquote, fällt das Ergebnis weniger eindrucksvoll aus, wie die folgende Grafik zeigt.

So lag 2015 die Erwerbstätigenquote der 15-64-Jährigen bei 77,6 %, die Beschäftigungsquote dagegen nur bei 56,9 %. Von den 55- bis 59-Jährigen waren 81,1 % erwerbstätig und 57,4 % beschäftigt. Tatsächlich sind 55- bis 59-Jährige nicht nur überdurchschnittlich oft erwerbstätig, sondern auch leicht überdurchschnittlich oft sozialversicherungspflichtig beschäftigt, wenn auch erst seit 2015. Den Anstieg der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung in dieser Altersgruppe führen Arbeitsmarktexperten unter anderem darauf zurück, dass ihr heute geburtenstarke Jahrgänge angehören, die von jeher auf dem Arbeitsmarkt stark vertreten waren.

Doch eigentlich geht es in dem besagten Spiegel-Online-Artikel nicht um 55- bis 59-Jährige. Da der Autor sich nach Kräften bemüht, seinen Lesern weitere Erhöhungen des Renteneintrittsalters, über die Rente mit 67 hinaus, schmackhaft zu machen, sollten vielmehr die über 60-Jährigen im Fokus stehen. Auch für diese sei es "mittlerweile die Regel, zu arbeiten", behauptet Diekmann.

Vor unserem geistigen Auge sehen wir Menschen kurz vor der Rente, die 40 Stunden die Woche am Schreibtisch sitzen oder an der Werkbank stehen und in Zeiten des "Fachkräftemangels" für ihre Arbeitgeber unentbehrlich geworden sind - ein Trugbild, wie ein näherer Blick auf die Statistik zeigt. Immerhin 56,2 % der über 60-Jährigen sind erwerbstätig; beschäftigt sind dagegen nur 35,9 %. Und beschäftigt heißt nicht vollzeitbeschäftigt. Wie das Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen (IAQ) errechnet hat, lag im Jahr 2015 die Vollzeitbeschäftigungsquote unter den 60-Jährigen bei 35,2 %, unter den 63-Jährigen bei 15,0 % und unter den 64-Jährigen bei 10,3 %.

Das angebliche Jobwunder ist ein Teilzeitbeschäftigungswunder

Was für die Älteren gilt, gilt, wenn auch in etwas geringerem Maße, auch für die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter insgesamt. Zweifellos ist die Beschäftigungsquote, auch unter den Älteren, gestiegen. Doch geht das vorgebliche Beschäftigungswunder allein auf den Anstieg der Teilzeitbeschäftigung zurück. Die Zahl der Vollzeitbeschäftigten lag 2016 mit rund 22,9 Millionen zwar über den 21,8 Millionen im Jahr 2006, jedoch immer noch niedriger als 2000, als es in Deutschland noch 23,9 Millionen Vollzeitbeschäftigte gab. Steil angestiegen ist hingegen die Zahl der Teilzeitbeschäftigten, von 3,9 Millionen im Jahr 2000 auf 4,5 Millionen im Jahr 2006 und 8,7 Millionen im Jahr 2016.

Zudem ist der für die letzten Jahre ausgewiesene Anstieg der Beschäftigungsquote zum Teil ein statistisches Artefakt. Nach Angaben der BA fallen die Zahlen ab 2011 unter anderem deshalb höher aus, da sie auf Grundlage des Zensus 2011 erstellt wurden. Da die Bevölkerungszahl zuvor zu hoch angesetzt worden war, fielen die für die Jahre vor 2011 berechneten Beschäftigungsquoten zu niedrig aus.

Trifft denn wenigstens der von Politik und Medien vermittelte Eindruck zu, dass es in Deutschland immer mehr Arbeit gibt? Die Antwort lautet: nicht wirklich. Seit der Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 ist zwar die Zahl der Erwerbstätigen und der Beschäftigten gestiegen, die Arbeit verteilt sich jedoch nur auf mehr Schultern. Wie die folgende Grafik zeigt, liegt das Arbeitsvolumen aller Erwerbstätigen heute zwar über dem Stand von 2005, aber immer noch unter dem Stand von 1991.

So entpuppt sich das angebliche Beschäftigungswunder als Teilzeitbeschäftigungswunder. Da in dem hier dargestellten Zeitraum die Zahl der Erwerbstätigen deutlich angestiegen ist, ist klar, dass das Arbeitsvolumen pro Kopf entsprechend deutlich gesunken sein muss. In welchem Maße dies geschehen ist, verdeutlicht die folgende Grafik. Damit setzt sich ein langfristiger Trend fort, wie eine bis 1960 zurückreichende Aufstellung des IAQ beweist.

Zu erklären sein dürfte diese Entwicklung zum Teil mit Produktivitätsfortschritten, wachsender Automatisierung und dem durch Hartz IV ausgelösten Druck, auch geringfügige Beschäftigungen aufzunehmen. Dazu kommt die unter anderem durch das Ehegattensplitting geförderte klassische Rollenverteilung. Zwar ist die Frauenerwerbstätigkeit stark angestiegen und liegt inzwischen in der europäischen Spitzengruppe, doch in keinem anderen europäischen OECD-Land tragen Frauen im Durchschnitt so wenig zum Haushaltseinkommen bei wie in Deutschland, wie eine OECD-Studie ergab.

Quellen: Statistisches Bundesamt, IAB (von den Nachdenkseiten archivierte lange Zeitreihe); eigene Berechnung und Darstellung.

Vor diesem Hintergrund entpuppen sich im Übrigen die Standardaussagen arbeitgebernaher Wirtschaftsexperten, Arbeitszeitverkürzung sei des Teufels und eine Verlängerung der Wochen- und Lebensarbeitszeit führe zu mehr Beschäftigung, als leeres Geschwätz. Arbeitszeitverkürzung ist seit langem Realität, nur weitestgehend ohne Lohnausgleich. Ohne die stetige Verkürzung der realen durchschnittlichen Arbeitszeiten läge die Arbeitslosenquote, bei stagnierendem Arbeitsvolumen, heute weitaus höher. Doch mit solch defätistischem Zahlenwerk behelligen die Medien ihre Konsumenten hierzulande nur selten. So wird es wohl auch künftig, weitgehend unwidersprochen, heißen: Wir müssen alle nur mehr und länger arbeiten, dann steigt die Beschäftigung und die Rente ist sicher. Und die Arbeitslosenquote wird weiter sinken, zumindest auf dem Papier.

Die zunehmende Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen ist dazu kein Widerspruch, sondern im Gegenteil die Voraussetzung dafür. So erklärt es sich wohl auch, warum die sozialdemokratische Arbeitsministerin Andrea Nahles partout nichts dabei finden kann, wenn immer mehr Teilzeitverträge mit fester Stundenzahl in Verträge mit flexiblen Einsatzzeiten umgewandelt werden, die ständige Verfügbarkeit mit schmalem Einkommen kombinieren.

Doch was ist mit den vielen Flüchtlingen, die auf den Arbeitsmarkt drängen? Für sie gibt es Ein-Euro-Jobs und die bewährten arbeitsmarktpolitischen "Maßnahmen". Sollte das wider Erwarten nicht reichen, um einen Anstieg der offiziellen Arbeitslosenquote zu verhindern, so können sich die Regierenden auf willfährige Journalisten verlassen, die dieses Problem mittels kreativer Statistikauslegung aus der Welt schaffen.

Wie das geht, hat einmal mehr Spiegel Online unter Beweis gestellt. Da berichtet das IAB, dass vielleicht, wenn alles optimal läuft, in fünf Jahren die Hälfte der Flüchtlinge einer Erwerbstätigkeit nachgehen wird, also beispielsweise einem Ein-Euro-Job oder einem bezahlten Praktikum. Und der Online-Ableger des Hamburger Nachrichtenmagazin macht daraus: "Jeder zweite Flüchtling hat nach fünf Jahren einen Job."