Wie uns die EZB ein X für ein U vormachen will
Die EZB behauptet, Anleihekäufe beendet zu haben. Tatsächlich kauft sie weiter in großem Umfang. Warum die Zentralbank diese Praxis verschleiert? Ein Kommentar.
Wirtschaftsliberale haben mit schlechten Argumenten – aber dennoch guten Gründen – die exorbitanten Anleihekäufe durch die Europäische Zentralbank (EZB) kritisiert. Seit die EZB im Juni 2021 annonciert hat, die Anleihekaufprogramme "beenden" zu wollen, ist diese Kritik aber verstummt. Von einer "Beendigung" kann allerdings keine Rede sein.
Ganz im Gegenteil kaufte und kauft die EZB weiterhin in großem Umfang Wertpapiere an und subventioniert damit den Bankensektor, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zu den Staatsanleihenkäufen der EZB ausdrücklich und korrekt festgehalten hat.
In meinem neuen Buch "Die Europäische Zentralbank: Herrschaft abseits von Volkssouveränität" habe ich dargelegt, dass die EZB mit ihrer "unkonventionellen Geldpolitik" nicht primär die Staatsfinanzierung, sondern das Geschäft von "Schattenbanken" befördert und damit eine Überfinanzierung im Finanzsektor bewirkt hat.
In einem Interview mit der FAZ gibt auch Bundesbankpräsident Joachim Nagel zu, dass "die umfangreichen geldpolitischen Anleihekäufe mit zahlreichen Nebenwirkungen an den Finanzmärkten verbunden" gewesen seien. Die "geldpolitischen Anleihekäufe" müssten daher "ein Ausnahmeinstrument für Ausnahmesituationen bleiben".
Kommunikation nach Art der EZB
Womit der Eindruck erweckt wird, die EZB habe die "Anleihekäufe auslaufen lassen", wie in der FAZ-Interviewer en passant behauptet, ohne dass ihm Nagel widersprechen würde. Was allerdings wenig verwundert, denn die EZB berichtet nicht zufällig nur über ihre "net purchases". Denn die belaufen sich dann auf exakt 0, wenn die EZB betragsmäßig nicht mehr Anleihen kauft, als ihr durch Tilgungen und Zinszahlungen auf ihr Anleihenportfolio zugeflossen sind. Freilich fragt man sich, wie man aus einer solchen "0" schließen zu können glaubt, dass die "umfangreichen […] Anleihekäufe" beendet worden sind.
Tatsächlich kann von einer "Beendigung" keine Rede sein: Auf der Bilanz der EZB wurde z. B. zum Jahresende 2023 unter dem Titel "Zu geldpolitischen Zwecken gehaltene Wertpapiere" ein Betrag von etwas über 425 Milliarden Euro ausgewiesen. Unterstellt man eine durchschnittliche Laufzeit dieser Wertpapiere von 4,25 Jahren, dann werden pro Jahr von den Schuldnern 100 Milliarden Euro an Tilgungszahlungen an die EZB geleistet. Das aber heißt, dass wenn die Nettokäufe sich auf 0 belaufen hätten, die EZB Wertpapiere im Wert von 100 Milliarden Euro zuzüglich der Zinszahlungen gekauft hätte.
In welchem Umfang die EZB tatsächlich Wertpapierkäufe tätigte, verrät sie in keiner ihrer Publikationen. Es finden sich auch keine Informationen über die erfolgten Tilgungen, sodass man auf die Ankaufsvolumina selbst schließen könnte. Das ist nur konsequent, denn wie mir die Pressestelle der EZB auf meine entsprechende Nachfrage lapidar mitteilte, erteilt die EZB keine Auskunft über die Brutto-Ankaufsvolumina.
Alles spricht allerdings dafür, dass die Größenordnungen das Adjektiv "umfangreich" weiterhin verdienen. Denn ansonsten hätte die Wirtschaftspresse bestimmt nicht nur von "schrecklichen Inflationswellen" schwadroniert, sondern von schrecklichen Bankenpleiten berichten müssen.
Mein Argument ist, kurz gesagt, dass Staatsanleihen, die das Gros der Anleihekäufe der EZB ausmachen, inzwischen im Finanzsektor faktisch als eine Art von Geld fungieren. Eine Funktionsvoraussetzung dieser Verwendungsweise von Wertpapieren aber ist, dass ihre Kaufpreise stabil gehalten werden. Was von Zentralbanken erfordert, "umfangreich" in Anleihemärkten zu intervenieren.
Tun sie das nicht, dann kann es zu Wertverlusten kommen, die, wie das Beispiel der Silicon Valley Bank in den USA belegt hat, zu Konkursen selbst von eigentlich gesunden Banken und in der Folge zu einem Finanzcrash führen können.
Nebelkerzen des Bundesbankpräsidenten
Es gilt daher zu konzedieren, dass die EZB im Rahmen des bestehenden und von ihr beförderten "marktbasierten Finanzsystems" mit ihren umfangreichen Anleihekäufen die "Finanzstabilität" gewährleistet. Freilich ist dennoch zu fragen, ob die damit verbundenen Subventionen des Finanzsektors im Gemeinwohlinteresse gerechtfertigt werden können.
Nagel dagegen versucht selbst die auf diese Subventionen zurückgehenden Verluste der Bundesbank als Wertverluste der auf ihrer Bilanz befindlichen Anleihen zu zeichnen. Ein Blick in die Bilanz der EZB von 2023 lässt allerdings leicht erkennen, dass deren Verluste in Höhe von ca. 1,27 Milliarden Euro sich nicht durch solche Wertverluste, sondern primär durch Zinszahlungen auf die Guthaben der Geschäftsbanken auf ihren Konten bei der EZB erklären. Diese Guthaben aber sind überwiegend das Resultat der Anleiheankäufe. Denn, wann immer die EZB Wertpapiere am Markt ankauft, erhöhen sich automatisch die Guthaben von Geschäftsbanken auf ihrem Konto bei der EZB um denselben Betrag.
Die behaupteten "Herausforderungen" für Banken durch die "Leitzinserhöhung" der EZB stellen sich daher in Wahrheit als großzügiges "Geschenk" an Banken heraus. Allein im Jahr 2023 hat die EZB auf die überwiegend durch die Wertpapierkäufe generierten Guthaben von Banken bei der EZB Zinszahlungen von mehr als 16 Milliarden Euro geleistet. Die als hoch subventioniert geltende Landwirtschaft musste sich dagegen mit Subventionen in Höhe von 6,9 Milliarden Euro begnügen.
Die Moral von der Geschicht
Wirtschaftsliberale kämpfen verlässlich und unermüdlich gegen aus ihrer Sicht gesamtwirtschaftlich schädliche staatliche Subventionen. Da von ihnen aber keine Klagen zu den umfangreichen EZB-Subventionen des Finanzsektors zu vernehmen sind, muss man der EZB neidlos zum Erfolg ihrer "Kommunikation" gratulieren. Sie hat zwar nur wenig Realitätsgehalt, aber es ist ihr mit ihr gelungen, selbst die vielen Wirtschaftsliberalen in Studier- und Redaktionsstuben glauben zu machen, die EZB habe ihre "umfangreichen Anleihekäufe" tatsächlich beendet.
Wie Nagel mache ich mir Sorgen um die "Demokratie" und "unseren Wohlstand". Was mich allerdings nicht sorgt, sind wie ihn die "Entwicklungen in Thüringen und Sachsen", sondern die Tatsache, dass es nun keine Kritiker an den umfangreichen Anleihenkäufen mehr gibt. Mit diesen Ankäufen wird aber ein Finanzsystem durch ein staatliches Organ gefördert und aufrechterhalten, ohne dass dieses vom "Volk" dazu ermächtigt wurde und von diesem zur Verantwortung gezogen werden kann.