Wie weit ist es von der Zeitenwende zum Zeitenende?

Atombombenexplosion. Bild: FEMA News Photo

Nach der Kuba-Krise war die Welt im Schock, sogar die der Großmächte. Heute spielen sie wieder mit dem Feuer. Sogar dem nuklearen. Ein Essay zum heutigen Antikriegstag

Ich erinnere mich noch genau an den Augenblick, den der US-Präsidentenberater Arthur Schlesinger den "gefährlichsten Moment in der Geschichte der Menschheit" nannte. Zu diesem Moment vor fast 60 Jahren befand ich mich ich als Achtjähriger bei meiner Oma in Norddeutschland, rund 250 Kilometer von zu Hause entfernt. Es waren Herbstferien.

Meine Angst, ich könnte meine Eltern in diesem Leben nicht mehr wiedersehen, konnte Oma nicht wirklich beruhigen, sie hatte selbst Sorge vor dem Atomkrieg. Der Zweite Weltkrieg war 17 Jahre her und saß ihr in den Knochen.

In der Kuba-Krise 1962 hatte US-Präsident Kennedy auf die Stationierung sowjetischer Atomraketen hin eine Seeblockade gegen Kuba angeordnet, bis diese Arsenale vom Vorhof der USA verschwinden.

Heute sprechen Historiker vom gefährlichsten Moment seit der Kuba-Krise. Unsere Sorgen können uns lähmen; sie sind allerdings auch geeignet, das eigene Engagement zu verstärken. Wir sollten dabei auch der Meinungsmache Aufklärung entgegenstellen.

Wenn etwa Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wegen des blutigen Krieges Russlands gegen die Ukraine, den wir verurteilen, von Zeitenwende spricht, blendet er aus, dass dies nicht der erste Krieg ist, der dieses Wort rechtfertigt. Dies machen die Beispiele des Vietnam- und des Irak- sowie des Jemenkriegs deutlich.

Die UNO spricht beim Jemen-Krieg, in dem Katar und die Saudis Akteure sind, von der größten humanitären Krise der Welt. In der Ukraine kommt die oft unterschätzte Gefahr hinzu, dass eins der dort liegenden Atomkraftwerke im Krieg einen Unterbruch der Kühlung des Reaktors erfährt. Was dann droht, das stellt den GAU von Tschernobyl von 1986 weit in den Schatten: Schlimmstenfalls brauchen wir alle uns die nächsten hunderttausend Jahre hier nicht mehr blicken lassen.

Wenn heute Russland Krieg führt, dann verstößt es schon wegen der Explosionskörper in bewohnten Gebieten gegen das Völkerrecht; und zugleich ist das auch eine umgekehrte Kuba-Krise, eine Reaktion darauf, dass die USA Nuklearsysteme in die Nähe der russischen Grenze bringen.

Mit einem Verweis auf die Spannungssteigerung im Vorfeld des Krieges ergreife ich nicht Partei für den Krieg, der schon für sich genommen ein Verbrechen ist. Mehrere Diplomaten und Professoren sowie weitere Spitzenkräfte warnten in einem Aufruf im letzten Dezember vor der Eskalationspolitik der Nato.

Ergänzend kritisieren wir die doppelten Standards in der Politik und Meinungsbildung, die hierzulande nach US-Verstößen gegen die Haager Landkriegsordnung nichts von Sanktionen wissen wollte, etwa als die US-Armee im völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak bei Kriegshandlungen nicht zwischen Kämpfern und Zivilisten unterschied. Amnesty International kritisiert diese doppelten Standards explizit hinsichtlich der Kriege im Jemen, in Moçambique und in Myanmar.

Wirtschaftliche und machtpolitische Interessen stehen einer klaren Haltung, die universell gilt, entgegen.

Wie ist ein Atomkrieg schon einmal erspart blieb

Dass wir heute hier sein können, verdanken wir unter anderem dem sowjetischen Offizier Wassili Archipow: Als die US-Marine in der Kuba-Krise mit Unterwassertorpedos auf sein Atom-U-Boot zielte, löste er den für diese Situation vorgeschriebenen Gegenschlag nicht aus. Der Atomkrieg blieb uns erspart.

Seiner Zivilcourage verdanken wir, dass wir heute hier zusammen sein können. Wir können uns nicht ewig darauf verlassen, dass uns gesunder Menschenverstand in einer solchen Situation rettet. Wir können uns eine solche Zivilcourage allerdings selbst zueigenmachen und den Friedensinteressen Nachdruck verleihen.

Darum geht es heute und morgen. Man muss etwa darauf hinweisen, dass Kriegswaffenexport in das Kriegsgebiet völkerrechtlich gegen die Haager Landkriegsordnung von 1907 verstößt. Sie besagt, "die Kriegsführenden haben kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Mittel zur Schädigung der Mittel. Die Tötung eines (…) wehrlosen Feindes, (…) der Gebrauch von Waffen, (…) die geeignet sind, unnötig Leiden zu verursachen (...)".

Dieses Verbot umfasst entsprechend auch das unkalkulierbare Risiko, das von Nuklearanlagen in Kriegsgebieten wie der Ukraine ausgeht. Hinzu kommt die Nuklearrüstung selbst. Es geht darum, einen Atomkrieg zu verhindern. Das Nato 2022 Strategic Concept sieht die Stationierung von Atomwaffen in Osteuropa nahe Russlands vor und hält sich den Einsatz dieser Arsenale vor.

Die Nato legitimiert das mit der Strategie der Abschreckung, die jeder Entspannungspolitik entgegensteht. Wir halten trotz aller Gegensätze an Abrüstungsverträgen und völkerrechtlichen Vereinbarungen über eine Friedensordnung fest, die wie der Vertrag zur Deutschen Einheit und die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit die gemeinsame Sicherheit als die Sicherheit eines jeden zum Ziel hat.

Der 100-Milliarden-Sonderfonds für die Bundeswehr, der uns als Reaktion auf den russischen Krieg verkauft wird, und das zwei-Prozent-Ziel der Nato, brechen damit schon durch den vorgesehene Ankauf der US-Atombomber des Typs F 35, die alleine für den Zweck angeschafft werden sollen, Angriffe mit den US-Nuklearsystemen zu fliegen.

Auch die Nato-Osterweiterung lässt sich mit den erwähnten völkerrechtlichen Texten nicht vereinbaren, da sie der Aufgabe, eine Friedensordnung der gemeinsamen Sicherheit aller aufzubauen widerspricht. Das kritisieren wir unter anderem mit Egon Bahr, Klaus von Dohnanyi, George F. Kennan und mit dem CIA-Chef Burns. Schon sie und nicht alleine der Krieg untergräbt die Friedensordnung in Europa.

Die Hochrüstung raubt zudem Geld für die Bedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung, das sind die arbeitenden Menschen und ihre Familien. Damit widerspricht sie auch gewerkschaftlichen Interessen.

Ungehört verhallt: Appell für globale Kooperation

Doch es geht hier nicht nur um die Bevölkerung Deutschlands oder Europas. Vor einem halben Jahrhundert sagte der Generalsekretär der UNO, U Thant, es verbleibe nur noch ein Jahrzehnt, um eine weltweite Kooperation zu beginnen, "das Wettrüsten zu stoppen, den menschlichen Lebensraum zu verbessern." Andernfalls würden die globalen Probleme "derartige Ausmaße annehmen, "dass ihre Bewältigung menschliche Fähigkeiten übersteigt."

Diese Warnung steht im ersten ökologischen Warnruf des Club of Rome an die Menschheit.

Wir können uns die Ressourcenverschwendung und die Verbrennungsabgase, die der Militärsektor verursacht, im vielfach belasteten Treibhaus Erde nicht leisten. In Zeiten einer massiven Schädigung von Luft, Böden und Wasser hat unsere Generation mit dem Lebensraum Erde so schonend umzugehen, dass das Leben lebenswert bleibt.

Stattdessen steigern Regierungen weltweit, allen voran Regierungen der Nato, die Militärausgaben in immer neue Rekordhöhen. Das geht nicht nur zu Lasten der gewerkschaftlichen Interessen. Es untergräbt die sozialen Lebensbedingungen auch ohne Krieg.

Russland geht die Gefahr von Krieg nahe von Atomkraftwerken selbstmörderisch ein. Dies ist ein weiterer zu verurteilender Punkt. Die Nato mit ihrer Führungsnation USA hat in diesem Zusammenhang nicht minder verantwortungslos gehandelt. Die Nato hat die damals illegale Regierung der Ukraine nach dem laut dem ZDF-Magazin Panorama vom 6.3.2014 prowestlichen Putsch in Kiew im Umgang mit Atomanlagen im Kriegsfall beraten.

Krieg ist in der Nähe solcher Anlagen maximale Unsicherheit für die Zivilisation. Dennoch hat die US-Regierung die Ukraine seit dem Umsturz vor acht Jahren mit milliardenfacher Militärhilfe aufgerüstet. Gabriele Krone-Schmalz sprach hierbei von Staatsstreich.

Wir von der Friedensbewegung setzen uns für Frieden durch Recht ein, für eine Zukunft Europas, in der sich unser Land entsprechend den schon erwähnten völkerrechtlichen Text für eine Friedensordnung einsetzt, die zukunftsfähig ist, da sie die Sicherheitsinteressen aller berücksichtigt, einer Friedensordnung, die Sicherheit nicht militärisch, sondern sozial und ökologische versteht.

Im Oktober beraten rund 300 Nato-Führungskräfte, Vertreter der Rüstungsindustrie und Strategen über die Möglichkeit, die Nato-Staaten in der Rivalität mit China und Russland militärisch zu unterstützen, wie es in ihren Tagungsunterlagen heißt.

Es geht hier um die Staaten, die über 90 Prozent der nuklearen Arsenale besitzen. Wir antworten darauf: "Nicht der Krieg, sondern der Frieden ist der Ernstfall, in dem wir uns zu bewähren haben", wie es Gustav Heinemann, Mitbegründer der CDU, sagte. Heinemann war Essener Oberbürgermeister, später war er für die SPD im Bundestag und 1969 setzte er sich als Bundespräsident für Frieden ein.

Niemand soll sagen müssen, man habe es kommen sehen. Warnungen habe es viele gegeben. Nun aber sei nichts mehr so, wie es bis gestern war.

Eine Zeitenwende darf nicht in ein Zeitenende münden.