Wie wir die Demokratie stärken können: Gegner eingrenzen statt ausgrenzen

Seite 2: Deutschlands große Chance

Das Schweizer Modell der Mehrheitswahlen in Mehrpersonenwahlkreisen lässt sich einfach und quasi risikolos auf Deutschland übertragen. Da im deutschen Wahlsystem das Verhältniswahlrecht zentral ist, hat Deutschland bereits ein Mehrparteiensystem. Es müssten also nur noch für wichtige politische Ämter Mehrheitswahlen in Mehrpersonenwahlkreisen eingeführt werden.

Dies dürfte nicht nur die Anreize der AfD-Vertreter zu moderatem Verhalten stärken, sondern auch die parteiinterne Auswahl ihrer Köpfe verändern: moderate und problemlösungsorientierte Personen müssten die AfD nicht mehr verlassen und ebensolche Personen könnten neu in die AfD eintreten.

Die Kandidaten für Ämter, die eine Positionierung in der Mitte statt an den politischen Rändern verlangen, wären dann daran interessiert, dass sich die AfD insgesamt mehr als konstruktive politische Kraft einbringt und weniger als Protestpartei ohne besonders fruchtbare Vorschläge agiert.

Es gilt: Wer erfolgreich sein will, muss echte Lösungen vorschlagen, moderat sowie bedacht agieren und sich insbesondere einmitten, das heißt in die Mitte des politischen Spektrums begeben.

Die Wahl der AfD

Tut die AfD dies nicht, verlöre sie die Chance, sich an Regierungen zu beteiligen und relevante Ämter zu besetzen. Da dies dann aufgrund einer Volkswahl passieren würde, wären ihr Argument der "Ausgrenzung" sowie ihr Protestgehabe unglaubwürdig. Die AfD und in der Zukunft neue Protestparteien würden so schnell zu ziemlich normalen Parteien.

Am einfachsten könnte mit der Einführung von Mehrheitswahlen in Mehrpersonenwahlkreisen auf kommunaler Ebene begonnen werden. Dort könnte statt dem gewählten Bürgermeister so wie in den Schweizer Gemeinden eine Regierung von fünf, sieben oder auch neun Personen gewählt werden, zeitgleich und in einem Wahlkreis mit der Mehrheitsregel.

Dafür sind zwei Wahlgänge sinnvoll, wobei im ersten noch das absolute Mehr gilt, im zweiten das relative Mehr. Wie genau die Detailregeln ausgestaltet werden, kann den Bundesländern oder einzelnen Gemeinden überlassen werden.

Vielfalt ist auch hier ein Vorteil, weil fast risikolose Experimente mit dem System es ermöglichen, von anderen zu lernen und die Modelle dynamischer zu entwickeln. Die Bundesländer könnten auch gezielt Versuche von Gruppen von Gemeinden unterstützen und diese wissenschaftlich begleiten lassen.

Sodann könnte die Regel auch gut auf die Wahl der Regierung von Bundesländern übertragen werden. Statt der Wahl der Ministerpräsidenten durch das Parlament könnten dann die Bürger so wie in Schweizer Kantonen ein Regierungskollegium direkt wählen.

Und schliesslich wäre auch die Wahl der Bundesregierung nach diesem Verfahren möglich. In der Schweiz wird die Bundesregierung noch durch das Parlament gewählt, mit einer Regel, die ebenfalls eine parteiliche Durchmischung der Regierung und Konkordanz bewirkt. Mit der Volkswahl der gesamten Bundesregierung könnte Deutschland zum weltweiten Vorbild werden, auch für die Schweiz.

Zu den Autoren:

Reiner Eichenberger ist Professor für Theorie der Finanz- und Wirtschaftspolitik an der Uni Fribourg und Forschungsdirektor von CREMA – Center of Research in Economics, Management and the Arts.

Patricia Schafer ist Diplomassistentin und Doktorandin am Lehrstuhl für Theorie der Finanz- und Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg.

Prof. Dr. David Stadelmann ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth und Senior Fellow am Schweizer Institut für Wirtschaftspolitik an der Universität Luzern (IWP).

Die Autoren erforschen gemeinsam die Eigenschaften von Mehrheitswahlen in Mehrpersonenwahlkreisen.

Eine ausführliche Analyse der hier diskutierten Mechanismen bietet:

Eichenberger, Reiner, Marco Portmann, Patricia Schafer und David Stadelmann (2021). Mehrheitswahlen in Mehrpersonenwahlkreisen: Ein Schweizer Erfolgsrezept? Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 22(4), 315-329.

Dieser Beitrag beruht auf dem Aufsatz "Mehr Schweiz wagen", Weltwoche 12/2024: S, 44-45.

Kontakt: reiner.eichenberger@unifr.ch