Wie wir die Demokratie stärken können: Gegner eingrenzen statt ausgrenzen

Wahlzettel und Abgeordnete

Deutschlands politisches Establishment versagt, die AfD profitiert. Statt Exklusion braucht es mutige Reformen. Wie die Schweizer uns ein Vorbild sein kann.

Deutschland hatte einst den Ruf, wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme ernsthaft anzugehen. Nun bietet es ein anderes, von der jetzigen und der Vorgängerregierung geprägtes Bild.

Die angestammten Parteien sind angeschlagen. Das ebnete den Boden für neue Oppositions- und Protestparteien, insbesondere für die Alternative für Deutschland (AfD), die die ungelösten Probleme erfolgreich bewirtschaften kann.

Demokratie lebt vom intensiven Wettbewerb zwischen Parteien und Politikern. Dieser Wettbewerb hält die Regierung zu problemlösungsorientierter Politik an. Doch auf den Wettbewerb durch die AfD reagieren die angestammten Parteien mit Ausgrenzung.

Dies erlaubt der AfD, die angestammten Parteien als den demokratischen Wettbewerb unterdrückendes Machtkartell zu verschreien und sich selbst als "Alternative" zu einem aus den Fugen geratenen System darzustellen.

Werden Deutschlands Probleme nicht angegangen und die AfD weiterhin ausgegrenzt, dürfte sie in manchen Bundesländern, Kreisen und Gemeinden die führende Partei und zur Königsmacherin oder Unterstützerin einer Minderheitsregierung werden.

Spätestens dann steht sie als mächtige Partei da. Sie auszugrenzen oder gar von demokratischen Wahlen auszuschließen, birgt deshalb immer größere Gefahren für die gesellschaftliche Stabilität und die Demokratie. Was also tun?

Den demokratischen Wettbewerb stärken

Es gilt, den demokratischen Wettbewerb in Deutschland zu stärken und so zu gestalten, dass sich angestammte und neue Parteien und insbesondere ihre ambitionierten Vertreter – heute jene der AfD, demnächst vielleicht jene einer neuen "Linken" oder anderer Protestparteien – konstruktiv und fruchtbar an der Entwicklung Deutschlands beteiligen.

Das mag manchen mit Blick auf die AfD naiv und utopisch erscheinen, ist es aber nicht! Es braucht dazu nur die Bereitschaft der angestammten Parteien, mit einer institutionellen Reform den relativ fähigen Politikern ihrer eigenen und anderen Parteien wirksame Anreize zu geben, sich stärker in der politischen Mitte zu positionieren, moderater zu politisieren und ernsthaft Probleme anzugehen.

Wie das gehen kann, zeigt ein Blick in die Schweiz. Ihre hohe politische Stabilität und großer Wohlstand – ihre Wirtschaftsleistung pro Kopf ist zu laufenden Wechselkursen umgerechnet rund 90 Prozent höher als in Deutschland – liegen nicht an dem längst geschleiften Bankgeheimnis, der Verschonung vor den Weltkriegen oder gar den Schweizer Genen, sondern an den politischen Institutionen. Sie geben politischen Entscheidungsträgern Anreize, die Probleme ernsthaft, konstruktiv und mit Anstand anzugehen.

Der widerspenstigen Zähmung

In der Schweiz setzen sich die Regierungen auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene normalerweise aus fünf bis sieben Mitgliedern von Parteien eines breiten politischen Spektrums zusammen, die kollegial zusammenarbeiten, was auch als Konkordanz bezeichnet wird.

Natürlich gibt es auch in der Schweiz rechte Parteien, insbesondere die Schweizerische Volkspartei (SVP), welche die größte Partei ist. Sie verhält sich aber trotz der hohen Zuwanderung und dem hohen Ausländeranteil in der Schweiz moderater als die AfD und andere rechte Parteien in Europa. Ihre Mitglieder wirken in zahlreichen wichtigen Regierungsfunktionen auf allen staatlichen Ebenen mit.

Direkte Demokratie und Dezentralisierung

Zur Erklärung von Konkordanz und Problemlösungsorientierung der Schweiz werden zumeist ihre stark ausgeprägte direkte Demokratie und kleinräumige Dezentralisierung herangezogen. Ebenso wichtig dürfte aber das spezielle Schweizer Wahlsystem sein. Wie das deutsche System vereint es Elemente von Verhältnis- und Mehrheitswahlen, tut dies aber in weltweit einmaliger Form:

1. Mit Verhältniswahlrecht werden die vergleichsweise "unwichtigen" Politiker gewählt: auf Gemeinde- und Kantonsebene die Parlamentsmitglieder, und auf Bundesebene die Mitglieder des Nationalrats, der großen der zwei gleichberechtigten Parlamentskammern (200 Sitze). Mit Mehrheitswahlrecht werden hingegen die relativ wichtigen Politiker gewählt: die Mitglieder der Kantons- und Gemeinderegierungen sowie auf Bundesebene die Mitglieder des Ständerats, der kleinen Parlamentskammer (46 Sitze).

2. Die Mehrheitswahlen finden in Mehrpersonenwahlkreisen statt. Das heißt, mehrere Kandidaten aller Parteien treten für mehrere Sitze gleichzeitig in einem Wahlkreis an. Dabei hat jeder Bürger so viele Stimmen, wie es Sitze im Wahlkreis zu besetzen gibt. Diese kann er frei auf die Kandidaten verteilen, wobei er jedoch höchstens eine Stimme pro Kandidat abgeben kann. Gewählt sind diejenigen Kandidaten, die im ersten Wahlgang ein absolutes Mehr erreichen oder im zweiten Wahlgang am meisten Stimmen gewinnen.

Schweiz: Alle Meinungen abgebildet

Aus der Kombination von Verhältniswahl und Mehrheitswahlen in Mehrpersonenwahlkreisen erwachsen fruchtbare Anreize für die Parteien und Politiker: Das Verhältniswahlrecht bewirkt, dass es viele Parteien gibt, die sich breit über das politische Spektrum verteilen und alle Meinungen abbilden.

Bei den Mehrheitswahlen in Mehrpersonenwahlkreisen für die wichtigen Ämter stellen die Parteien aus strategischen Gründen nicht zu viele Kandidaten auf. Denn wenn sich die Stimmen der ihnen nahestehenden Wähler auf nur wenige ihrer Kandidaten konzentrieren, steigen deren Wahlchancen.

Die beste Strategie für jede Partei ist, nur einzelne Kandidaten mehr aufzustellen, als es ihrem Wähleranteil entspricht. Als Folge können Wähler nur alle ihre Stimmen einsetzen, wenn sie Kandidaten verschiedener Parteien wählen. Dadurch wird es für die Kandidaten umso wichtiger, nicht nur den Wählern ihrer eigenen Partei zu gefallen, sondern auch den Wählern anderer Parteien, denn sonst erlangen sie keine Mehrheit.

Drang zur Mitte

Wählbare Kandidaten müssen sich dementsprechend stark in der Mitte des politischen Spektrums positionieren, mit ihrer Kompetenz überzeugen und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Politikern aller Parteien glaubwürdig signalisieren.

So verändern sich die Anreize der Politiker stark – sie werden ernsthafter, anständiger, ruhiger, lösungsorientierter. Ferner sind die Kandidaten in Mehrheitswahlen in Mehrpersonenwahlkreisen daran interessiert, dass sich auch ihre Partei als konstruktive politische Kraft und weniger als reine Protestpartei einbringt, weil sonst ihre eigene Glaubwürdigkeit leidet.

Vorteile des Schweizer Systems

Damit hat das Schweizer Wahlsystem gewichtige Vorteile: Es führt zu einer parteidurchmischten Kollegialregierung, wobei die Politiker zwar unterschiedliche Perspektiven mitbringen, aber trotzdem einigermaßen in der Mitte stehen, wenig ideologisch sind und am Wohl aller Bürger interessiert sind.

Dies erleichtert die Zusammenarbeit innerhalb der Regierung, schafft breite Integration und hohe Akzeptanz der Entscheide. Gleichzeitig sind Mehrheitswahlen in Mehrpersonenwahlkreisen sehr wettbewerblich.

Latenter Wettbewerb

Dieser Wettbewerb findet aber nicht grob und laut durch abrupte Wechsel der gesamten Regierungsmacht oder Parlamentsmehrheit statt, sondern viel feiner abgestuft und unaufgeregter. Insgesamt vereint das System permanenten Wandel mit großer Stabilität.

Zugleich sind Schmutzkampagnen gegen einzelne Politiker wenig attraktiv, denn wer andere nur schlecht macht, schadet zwar diesen Politikern, hilft aber zugleich allen anderen Wettbewerbern.