Wie wollen wir leben?
Gegenkultur und linke Links auf dem taz-Kongress in Berlin
"Wie wollen wir leben?" fragte die tageszeitung (taz) auf ihrem Geburtstags-Kongress am vergangenen Wochenende - und mehr als 2000 BesucherInnen waren in die ehemalige SED-Parteihochschule nach Berlin-Mitte gekommen, um über die Zukunft von Gegenkultur und Globalisierung, Bildung und New Economy zu diskutieren. "Eine dreitägige Generaldebatte" mit Podiumsdiskussionen, Party und Prominenz hatte die taz zum 22. Jubiläum angekündigt, mit dabei die alternative Nobelpreisträgerin Vandana Shiva, Nicaraguas ehemaliger Vize-Präsident Sergio Ramírez, Ex-Raf-Mitglied Karl-Heinz-Dellwo und Landwirtschaftsministerin Renate Künast.
In der ehemaligen Kaderschmiede mit orange-braunem 70er Jahre Ambiente war von Anzugsjacke über Wollkleid, Schlaghose bis hin zur knallroten Punkfrisur alles vertreten. Und obwohl die Mehrzahl der BesucherInnen die 30 deutlich überschritten hatte, mischten sich zumindest bei den Diskussionen über Pop-Kultur und "Linke Links" auch noch merklich Jüngere ins Publikum.
Wie wollen wir leben? Mit dem Internet, zumindest daran bestand in Berlin kein Zweifel. In der Diskussion über "Risiken und Nebenwirkungen der virtuellen Gesellschaft" ging es dann auch in erster Linie um deren Vorzüge. "Radio ist Berieselung, Fernsehen pure Zeitverschwendung, Zeitung lesen ab und an hintergründig, das Internet bietet das aktuellste und umfassendste Wissen", fasste Chaos-Computer-Club Sprecher Andy Müller-Maguhn seine Sicht der Mediengesellschaft kurz und bündig zusammen. Indymedia Aktivistin Ann Stafford berichtete von den positiven Erfahrungen der internationalen Anti-Globalisierungs-Bewegung mit der "Vernetzung von unten", erfolgreich ausprobiert in Seattle, Prag und zuletzt in Gorleben bei den Castor-Transporten. Und Mike Sandbothe, Medienprofessor in Bielefeld, lobte das Netz, weil es die Nutzer weg von engen Schubladen hin zu einem vernetzten Denken führe.
Natürlich müsse man sich gegen AOL-Werbung, rechtsradikale Propaganda und zunehmenden Schwachsinn im Netz wehren, dennoch, so Müller-Maguhn: "Das Internet ist potentiell noch immer anarchisch und damit für die Gegenbewegung nutzbar." Während sich Sandbothe für die Einrichtung eines alternativen Medienlabors als "Think-Tank und Task-Force in Sachen Medienkompetenz" stark machte, verteidigte Müller-Maguhn das spaß-orientierte Konzept der Computer-Hacker: Der Chaos-Computer-Club als "digitaler Kindergarten" mit pädagogischer Beobachtungsfunktion. Wie wichtig die sei, habe erst kürzlich die Verleihung des Chaos Cebit-Awards (Chaos Computer Club verleiht Preis an Siemens für Filtersoftware (Update)) als Protest gegen SiemensŽ Internet-Zensursoftware bewiesen.
Mehr Zündstoff, vor allem aber mehr Verständigungsschwierigkeiten bot die anschließende Veranstaltung zum Thema "Welche Rolle spielen wir: Gegenkultur versus Mainstream?". Drei Berliner Jungunternehmer, Mercedes Bunz vom Monatsmagazin für elektronische Lebensaspekte DE:BUG , Kitty Yo Plattenlabel-Chef Patrick Wagner und Flyer -Herausgeber Mark Wohlrabe sollten taz-Redakteur Daniel Bax ein ums andere Mal erklären, was an ihren Projekten eigentlich politisch sei. Einziges Problem: Die drei erhoben gar nicht den Anspruch, Teil einer politischen Gegenkultur zu sein. "Coole Platten" wolle er rausbringen, erklärte etwa Patrick Wagner, den Markt mit anderer Musik überschwemmen und sich dabei so teuer wie möglich verkaufen. Dies ist dem 30-jährigen Musiker zumindest teilweise gelungen: 50 Tonträger hat sein Label in den letzten sieben Jahren herausgebracht, zwanzig Leute können von dem Unternehmen leben. In der von Groß-Konzernen dominierten Musik-Szene durchaus ein subversives Element - selbst wenn sich Patrick Wagner inzwischen von H+M sponsern lässt. ("Ein Anarchie-Zeichen ist heutzutage ungefähr so subversiv wie ein Daimler-Benz-Stern.") Aber für solche Zwischentöne blieb in Berlin wenig Platz. Dafür musste auch die taz einiges einstecken: Angestaubt und gesellschaftlich erfolglos sei sie, revanchierte sich Wagner. Und die (Mode-)Journalistin Nike Breyer kritisierte die sinnliche Lieblosigkeit und Modefeindlichkeit des Blatts, dem es um Inhalte, nicht aber um Ästhetik ginge.
Eigentlich wurde die Diskussion da erst so richtig spannend, aber dann waren die zwei Stunden um und die nächsten Fragen lockten: Wie wollen wir lieben? Wie arbeiten? Mit wem wollen wir teilen?
Auf dem Podium zu "Globalisierung und Strategien der Solidarität" hätte eigentlich Madjiguène Cissé sitzen sollen. Aber dann hatte die Sprecherin der französischen Migranten-Organisation "Sans Papiers" nicht einreisen dürfen. Die Begründung: Sie sei (ohne ihr Wissen) 1998 als Illegale aus Deutschland ausgewiesen worden. Wie wollen wir leben? Bei einer Telefon-Liveschaltung aus Dakar äußerte die Senegalesin Cissé Zweifel am Motto des taz-Kongress. Ihre afrikanischen Freunde hätten die Frage erst gar nicht verstanden. "Im Senegal fragen die Leute: Leben wir überhaupt?"